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Archiv-Artikel

Sternstunden des Unspektakulären

WOHNZIMMERSHOW Die Beeindruckungsversuche eines liebesbedürftigen Menschen: Mit „L’Effet des Serge“ und „Melancholie des Drachen“ stellt sich die Gruppe Vivarium Studio aus Paris erstmals in Berlin am HAU vor

„L’Effet de Serge“ ist vielfältig lesbar: als Theater über Theater wie über das Sinnstiftungsversprechen der Kunst, als Parodie auf den Kunstbetrieb sowie als traurig-zarte Studie heutiger Vereinzelung

VON ANNE PETER

Selten sind Special Effects so dilettantisch vorgeführt worden und doch so wunderschön! Ein ferngesteuertes Auto fährt zu Händel-Klängen eine Wunderkerze spazieren. Autoscheinwerfer blinken zu pompösem Walkürenritt durch Bühnennebel. Serge nennt das dann etwa „Light Effect on a music by Wagner“. Und zwischendurch tanzt er im Dunkeln mit Glow-in-the-dark-Brille zu „Billy Jean“.

Serge, das ist der verschrobene Eigenbrötler in „L’Effet de Serge“, einer Performance der Gruppe Vivarium Studio aus Paris. Schauspieler, Bildhauer, Tänzer und Musiker sammeln sich in ihr seit 2003 um den französischen Regisseur Philippe Quesne und wurden 2008 zum Liebling des europäischen Festival-Sommers. Jetzt sind sie endlich auch in Berlin, im HAU 2, zu sehen.

Allsonntäglich lädt Serge (Gaëtan Vourc’h) Gäste ein, um ihnen seine sonderbaren Special-Effect-Shows vorzuführen – kleine Sternstunden des Unspektakulären. Ein paar Spielzeuge, ein bisschen Musik, und schon bringt er die Dinge zum Tanzen. Sie scheinen plötzlich, wie beseelt, ein Eigenleben zu führen.

Dabei tut Vourc’h auf der Bühne so, als säße er bei sich zu Hause im Wohnzimmer und nicht auf einer Bühne. Es ist, als wäre die Vierte Wand hier wieder vor die Bühne genagelt. Gerade der unerschütterliche Ernst und das Ignorieren des Publikums ist unweigerlich hoch komisch. Minutenlang sieht man Serge einfach beim Fernsehen zu. Er sitzt an seiner Tischtennis-Allzweck-Platte, langt seelenruhig in die Chipstüte und bestellt Bring-Dienst-Pizza. Echtzeitvertreib – wir sehen der Zeit beim Vergehen zu.

Solch unterspannte Nicht-Show-Shows liefert sonst höchstens die britische Gruppe Forced Entertainment. In „Spectacular“ imaginierten sie zuletzt in ähnlicher Weise anderthalb Stunden lang eine nicht vorhandene Performance und führten nebenbei einen ebenso langen Bühnentod auf. Auch bei „L’Effet de Serge“, dreht sich alles um die Abwesenheit der titelgebenden Show-Effekte, die hier allerdings nicht herbeigeredet, sondern von Serge hingebungsvoll als scheiternde Spektakularitäten präsentiert werden. Damit sind sie zum einen szenische Miniatur-Metaphern des Vivarium-Konzepts, das sich konventionellem Als-ob-Theaterspiel verweigert und stattdessen eine Art Einfach-da-sein-Spiel veranstaltet. Zum anderen sind sie aber auch, wenn man der paradoxerweise dennoch angebotenen (und anrührenden!) Fiktion folgt, die Experimente eines Einsamen, ein Anbasteln gegen den Alltag und das Alleinsein.

Doch Serges Schau-Geschenke bleiben unverstanden. Seine Gäste – dargestellt von Laien, denen wir beim Zuschauen zuschauen – klammern sich betreten ans Weinglas und verschwinden nach einem Höflichkeitskompliment („interesting“, „fascinating“, „touching“) schnellstmöglich wieder. Der Abend ist also nicht nur Meta-Theater, das die Zuschauerposition auf der Bühne installiert, das Publikum im Saal hingegen links liegen lässt, sondern handelt auch von den hilflosen Beeindruckungsversuchen eines liebesbedürftigen Menschen. So bleibt „L’Effet de Serge“ vielfältig lesbar: als Theater über Theater wie über das Sinnstiftungsversprechen der Kunst, als Parodie auf den Kunstbetrieb sowie als traurig-zarte Studie heutiger Vereinzelung.

Am Ende kündigt Serge die nächste Sonntagsattraktion an: eine Show mit dem Titel „Melancholie der Drachen“. Er wird darin eine Perücke tragen – „but above all I will be invisible“. Sagt’s und lässt vor dem Fenster drei Perücken an Schnüren zur E-Gitarre hotten: unsichtbare Hardrocker. Die begegnen einem, allerdings auch ganzkörperlich sichtbar, dann tatsächlich in der nächsten Vivarium-Produktion wieder. Sie stecken mit ihrer kaputten Karre in einer Kunst-Schnee-Landschaft fest, trinken Dosenalk, betreiben Autoradio-Zapping und führen der Reparatur-Frau alsbald die Attraktionen ihres vorerst bloß imaginierten Freizeitparks vor. Und wieder findet dabei ziemlich viel hinreißende Dingbeseelung statt. Unter anderem richten sich da schwarze, Luft befüllte Riesenplastiksäcke sanft-bedrohlich auf. Wie Drachen.

Dass die letzte Minute des vorhergehenden Stücks zu Beginn der nächsten Performance wieder aufgenommen wird, ist nur eine der absonderlichen Spielregeln, die der 1970 geborene Philippe Quesne, von Hause aus bildender Künstler und Bühnen-Ausstatter, für sein Theater gefunden hat. Hund Hermès beispielsweise muss, als improvisierender Echtheitsmarker, mit von der Partie sein, die Nebelmaschine angeworfen werden und ein berühmtes Gemälde eine Rolle spielen. Die in Berlin erstmalige Gelegenheit, zu staunen und zu schmunzeln über die Wunderlichkeiten der Vivarium-Welt, sollte man sich auf keinen Fall entgehen lassen.

■ „L’Effet de Serge“: 28./29. 4., 20 Uhr, Hebbel am Ufer 2 „Melancholie der Drachen“: 30. 4., 20 Uhr, Hebbel am Ufer 2