Der Augenmensch

Ostwald hält Kontakt mit den Augen, wenn er spricht. Damit man dranbleibt, während er was sagt Wäre sein Satz ein Milchkrug, hier läge er: Henkel, Tülle, Bauch, Blumenmuster. Zerbrochen in tausend Stücke

AUS BERLIN WALTRAUD SCHWAB

Hendrik Ostwald stottert. Seit mehr als 30 Jahren ist das so. Wird es schlimm, sind bei ihm nicht mal mehr Silben zu hören, sondern nur noch ein Klappern. Wie bei der Schlange. Wie beim Storch.

„Wenn ein Erwachsener stottert, dann braucht er es noch“, meint der 36 Jahre alte Ostwald. Um Himmels willen, wozu soll er das Stottern denn brauchen? Welchen Krankheitsgewinn zieht er daraus? „Solange das Handikap zu was gut ist, lebt man leichter damit“, antwortet er. Heißt das im Klartext: Der erwachsene Stotterer entscheidet in Wirklichkeit selbst, ob er stottert? Wenn dem so ist, dann könnte er es doch abstellen. Oder?

Hendrik Ostwald kann gar nichts abstellen. Er hat den Schlüssel zur Tür nicht, hinter der Kommunikation nicht mehr zäsiert daherkommt. Ein Ort müsste es sein, wo alle alle verstehen und der atmosphärisch zum Abendrot passt, das Ostwald von seinem Balkon aus sehen kann. Als Feuerball verschwindet die Sonne hinter der Westberliner City. Das Telefunken-Hochhaus, der Funkturm, das Europa-Center mit Mercedes-Stern sind im Gegenlicht als Silhouetten zu erkennen.

Noch mal von vorn: Hendrik Ostwald weiß noch nicht, wie er das Stottern abstellen kann. Im Gegenteil. Vor kurzem wurde ihm bei einem Mopedunfall das Sprunggelenk des linken Fußes zertrümmert. Seither ist sein Stottern wieder so schlimm wie in den schlimmsten Zeiten. Kein Wort will sich ihm fügen. Der Unfall – ein Versagen mehr. Das schlimme Bein – wie die Sprache gehorcht es ihm nun auch nicht mehr. Frühestens im Februar wird er wieder Sport machen können. Beach-Volleyball. Das braucht er doch, um sich auszupowern. Irgendwie muss es doch raus. Es, das ist die Wut auf den Ungehorsam sich gegenüber.

„Henne“ ist Ostwalds Spitzname. Er hat ihn angliziert. „Henman“ nennt er sich. Nicht die Henne, sondern der Hennenmann. Wenigstens das richtige Geschlecht will er haben. Als Germanist weiß er, dass Frauen in der Sprache mitunter versächlicht werden, was meist nicht gut gemeint ist: das Mädchen, das Weib, das Luder. Männer aber werden feminisiert, wenn sie abgewertet werden sollen: die Tunte, die Schwuchtel, die Memme.

Und noch mal von vorn: Hendrik Ostwald ist Stotterer. Er ist Stotterer und ein Augenmensch. Denn mit den Augen hält er die Spannung. Schön sind sie. Ein dunkles Grün, durchbrochen von einem Schimmer Grau. Er hat Glück. Er hat keine hellblaue Iris, die wie Eis wirkt und alles kalt durchdringt.

Ostwald hält den Kontakt mit den Augen, wenn er spricht. Nicht anmaßend. Nicht aufdringlich. Fast leicht. Damit man dranbleibt, während er was sagt. Denn seine Sprache ist zerfetzt. In Einzelteile zerlegt, die sich kaum zusammenfügen lassen. Wörter kommen als Scherben über die Lippen. Zusammengehalten nur durch den Blick.

Wäre ein Satz, den er sagt, ein Milchkrug, hier läge er: Henkel, Tülle, Bauch, Boden, Blumenmuster. Alles zerbrochen. In tausend Stücke. Und während er nicht aufhört, dem Gegenüber in die Augen zu schauen, setzt er die Scherben langsam wieder zusammen. Als wäre der Satz ein archäologischer Fund.

Alles muss Ostwald auf solch zeitraubende Art zusammenfügen. Jedes Wort. „Diskrepanz“ zum Beispiel. Wie sich später herausstellt, will er sagen: „Da ist eine Diskrepanz zwischen dem, was ich sage, und dem, was ich sagen will.“ Eine Leere, ein Vakuum, ein dunkler Fleck. Aber „Diskrepanz“ ist so ein Wort, das sich nicht fügt, das an jeder Stelle auseinander fällt. Ostwald braucht lange, bis er es zusammenhat. Dabei geht es nicht nur um D und I und S-K-R-E-P-A-N-Z. Das D ist selbst noch mal in sich zerlegt. Ein angefangenes D, ein D auf dem Höhepunkt, ein ausklingendes D. Die anderen Konsonanten reihen sich ein in den miesen Reigen. „Diskrepanz“ ist ein Scheißwort. Es hat, was den Stotterer zur Verzweiflung bringt. Verschlusslaute, Reibelaute, Zischlaute – so was verselbstständigt sich gern. Ostwald bringt es am Ende heraus. „Diskrepanz.“ Ein kostbares Wort. Die ganze Zeit hat er den Blick gehalten. Freundlich, ausdauernd, eine Ewigkeit im Moment.

Seit er 5 ist, stottert Ostwald. Davor hat er schnell geredet. Wie ein Wasserfall. Sich verschluckt an den Wörtern. Sie aufgefressen. Weil die Welt doch so groß ist und erklärt werden muss. „Sprich langsam, Kind“, sagen die Erwachsenen. Deshalb ist die Welt plötzlich nur noch groß, und die Erklärungen bleiben im Hals stecken. Damit fangen die Albträume an. Was nicht gesagt werden kann, überrollt einen nachts. „Dann starb meine Mutter, als ich 8 war. Dann hat mein Vater wieder geheiratet. Und dann fühlte ich mich erst recht abgemeldet.“

Aber es führt bei Ostwald auch nicht mehr weiter, alles auf die Psyche oder das Elternhaus zurückzuführen. Seine Eltern waren in Ordnung. Der Stotterer hat keine Therapie ausgelassen, um rauszufinden, warum er sich dennoch sich selbst verweigert. Schon als Kind hat man ihn zu Spezialisten gebracht. Einmal in der Psychoanalyse habe er sein Thema in einem Satz ausdrücken können, erzählt er. Was war das für ein Satz? „Ich weiß es nicht mehr, zu lange her“, antwortet er. Er hat es vergessen. Jetzt spricht er einfach, wie er spricht. Das ist der Fortschritt, den er gemacht hat. Obwohl er sich durchs Stottern entblößt fühlt. Wie nackt? „Ja“, antwortet er.

„Wahrscheinlich brauche ich das Stottern noch“, sagt Ostwald wieder. Wozu denn? „Um das Sprechen zu kontrollieren“, antwortet er. An der Stelle zwingt der Stotterer zur Widerrede. Welches Sprechen kontrolliert er denn. Seins? Was soll daran kontrolliert sein, wenn kein Wort unbeschädigt herauskommt? Stottern Sie, um Aufmerksamkeit zu kriegen? „Schonung“, antwortet er. „Ja, auch Aufmerksamkeit.“

Ach so, das Gegenüber ist gemeint. Es muss im Zaum gehalten werden. Was die Kommunikation unberechenbar macht, soll dem Stotterer erspart bleiben. Keine Unarten. Nicht: ihn unterbrechen, abschweifen, das Thema wechseln. Oder unvermittelt „Einen tollen Ausblick über die Stadt haben Sie“ sagen. „Mit tollen Sonnenuntergängen?“ „Ja“, antwortet Ostwald, „in Orange.“ Aber „orange“ ist auch so ein Wort, das nur kaputt über seine Lippen kommt. Als es endlich gesagt ist, fühlt es sich wie ockerbeige an.

In der Schule hat Ostwald kaum gesprochen. „Weil es auch qualvoll war. Das zog sich durchs Studium.“ Ausgerechnet Germanistik. Seine Wunde. „Man versucht, unsichtbar zu sein. Selbst beim Vorstellen in einer Gruppe.“ Und flirten? Dafür hat er die Augen. Seine 13-jährige Tochter lebt bei ihrer Mutter. Im Zimmer hängen Fotos, auf denen er sie huckepack trägt.

Vor zwei Jahren hat er den Magister gemacht über Johann Joachim Winckelmann. „Begründer der Kunstgeschichte.“ Vielleicht wird er promovieren. Bis dahin arbeitet er weiter als Cutter bei der Deutschen Welle. Er macht den Grobschnitt der Bilder hinter den Nachrichten. Beim Grobschnitt ist alles noch abgehackt. Abitur hat Ostwald auf dem zweiten Bildungsweg gemacht. Zuerst war er Nachrichtengerätemechaniker. Er braucht ewig, bis all die „ch“ an der richtigen Stelle sind. Schweres Wort? „Aber hallo. Das stimmt“, antwortet er unvermittelt, ohne zu Stottern. Er hat eine angenehme, melodische Stimme.

Mit neuen Sprechtherapien soll es möglich sein, das Stottern zu verlieren. Bei seinem Freund, der Arzt ist, hat es gewirkt. Bei Ostwald nicht. Lediglich Floskeln kommen ihm nun ungebrochen über die Lippen. „Das war echt toll.“ „Hals- und Beinbruch.“ „Der Himmel ist blau.“ „Auch das noch.“ Nur wenn er wütend sei, dann spreche er fließend, erzählt er. Er ist selten wütend, denn hinter dem Ungehorsam seiner eigenen Sprache verberge sich: „Konfliktangst“, sagt er. „Deshalb komme ich ins Stottern.“ Immerhin kann er seine Wut durch Musik loswerden. Er ist Percussionist in verschiedenen Bands, spielt auf Demonstrationen, auf Festen und in Kinder-Musicals.

Ostwald ist vor zwei Jahren bei der Stottererselbsthilfe gelandet. Das ist die Befreiung. Endlich sein können, wie man ist. Stottern als Selbstausdruck also? Aber das ist nur die halbe Wahrheit: „Stottern zeigt, dass man im Selbstausdruck gehemmt ist“, sagt er. „Wichtig ist jedoch, nicht mehr gegen seine Schwächen anzukämpfen, sondern mit deren Konzequenzen zu leben.“ Und welche sind das? Die Langsamkeit etwa? Die Redundanz? „Wenn man das Stottern akzeptiert, dann muss man Sympathie für die Langsamkeit haben.“ Der Stotterer – Antithese zur immer schneller werdenden Kommunikation? Ostwald sind solche Überlegungen egal. Seine Hoffnung: das Stottern doch irgendwann loszuwerden, indem er es akzeptiert.

Ostwald wohnt in einer Einzimmerwohnung in Tiergarten mit freier Sicht auf die Spree. Neben einem grünen Topf Farn stechen die roten Camus-Bücher auf dem Regal heraus. Grundtenor der Camus’schen Literatur: existenzielle Schwere. Wie ein Echo verstärken die roten Bücher die Leere, das Fremde, die Melancholie, die vom Ungesagten in Ostwalds Zimmer ausgehen. „Die Leere ist da, weil ich Angst habe, mich auszudrücken“, sagt Ostwald. „Wenn ich mich ganz unreflektiert zeige, dann bin ich tierisch verwundbar.“