: Revolution in der Kälte
In den Kiewer Messehallen wärmen sich die auswärtigen Oppositionellen. Trotz erster Erfolge bleibt ihr Optimismus vorsichtig
In der Messehalle im Kiewer Stadtteil Niwki reiht sich eine Matratze an die andere, 1.200 der dünnen Unterlagen bedecken den grauen Linoleumboden. Vom hohen Blechdach herab leuchten helle Schweinwerfer auf die Menschen unter den Decken, von denen viele nicht schlafen können, aus Lautsprechern brummen sanfte Bässe. Es ist Mitternacht in der provisorischen Schlafstadt.
Der Medizinstudent Markian liegt auf dem Rücken, den Unterarm benutzt er als Kopfkissen, den Mantel hat er über sich geworfen. Er liest Zeitung, neben ihm schnarcht leise seine Freundin. Den ganzen Samstag ist der 20-Jährige durch den Schneematsch zwischen Präsidentenpalast und Unabhängigkeitsplatz hin und her gestapft, hat die gelbe Fahne der Studentenbewegung Pora geschwenkt und auf der Leinwand der „Nascha Ukraine“-Bühne oder Fernsehern in Cafés die Debatte im Parlament verfolgt.
Dass die Abgeordneten die Wahl mit großer Mehrheit für ungültig erklärt haben, findet Markian großartig, und dass Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch und Oppositionskandidat Juschtschenko jetzt miteinander reden, immerhin in Ordnung. „Natürlich will die Regierung die Sache hinauszögern, weil die Zeit für sie arbeitet“, sagt der Medizinstudent, der mit dem Zug aus Iwano-Frankiwsk angereist ist, „Aber Verhandlungen müssen nun mal sein, wenn wir die Sache gewaltfrei lösen wollen“. Rechtlich ist die Lage in der Ukraine unklar, das Wahlgesetz sieht keine klare Lösung für die Annullierung von Wahlen oder Neuwahlen vor. Die Entscheidung des Parlaments, die Wahlen für ungültig zu erklären, ist also nicht bindend – auch weil sich Präsident Kutschma geweigert hat, die Resolution der Abgeordneten zu unterschreiben. Westliche Beobachter betonen deshalb eher die politische Bedeutung des Vorgangs. Immerhin hätten sich die Abgeordneten in großer Zahl auf die Seite der Protestbewegung gestellt, was den Druck auf die Regierung erhöhe.
Markian glaubt, dass sie um Neuwahlen nun nicht mehr herumkommt. „Das wäre doch die sauberste Lösung“, meint er.
Drei Matratzen weiter sitzt eine Gruppe älterer Männer in Jogginghosen und Unterhemd im Kreis um, Käse, Zwiebeln und ein Glas Gurken, gegenüber löst eine Frau im Schlafsack Kreuzworträtsel.
3.000 Menschen kommen täglich in die Halle von „ExpoPlaza“, um zu schlafen, einen Plastikteller voll Hühnersuppe zu essen oder einen Tee zu trinken. Bis Montag haben hier noch Ketten und Uhren auf einer Schmuckausstellung geglitzert. „Aber dann fand unser Chef, wir müssten was tun“, sagt Alexej, „und kein Aussteller hat protestiert, als wir sie gebeten haben, ihre Stände abzubauen.“ Die grüne Armbinde weist ihn als Mitglied des Hallenmanagements aus. „Die sind grün, nicht orange, weil wir neutral sind“, sagt der schlaksige 22-Jährige. „Wir unterstützen keinen Kandidaten, sondern die Menschen auf der Straße.“ Und das orangefarbene Tuch unter seinem Rollkragen? „Ist privat“, sagt er und grinst.
Natürlich könnten auch Anhänger von Janukowitsch kommen. Die meisten, die aus dem Osten angereist kämen, hätten nur ein Hinfahrtticket, kein Geld und nichts zu essen. Denen müsse man natürlich helfen. „Aber vielleicht sollten die lieber ihre blauen Bänder ablegen.“ Bisher sei eh noch keiner aufgetaucht, „sind ja auch nicht so viele“. Seit 18 Stunden ist Alexej auf den Beinen, koordiniert die Schlafplätze und sorgt dafür, dass immer genug zu essen da ist. Die Demonstranten, die sich hier ein paar Stunden ausruhen, sind aus dem ganzen Land angereist, die meisten aus dem Westen. „Die sind gut organisiert“, lobt Alexej. Viele seien in Gruppen gekommen, die von einem Mitglied von Nascha Ukraine geleitet würden. „Die haben unsere Telefonnummer, rufen uns an und sagen, wann wie viele Leute kommen.“
Larisa ist mir ihrer Gruppe aus Truskawez am Rande der Karpaten gekommen. Sie sitzt am Kopfende der Halle auf einem Gartenstuhl, wärmt ihre Hände an einem Becher Tee und guckt fern. Immer noch zeigt der oppositionelle Kanal 5, dem vor den Wahlen immer mal wieder die Schließung drohte, Bilder von der Parlamentssitzung am Samstagnachmittag. „Ich weiß nicht, ob Verhandlungen was bringen“, sagt die 22-jährige Bankkauffrau. Dass Janukowitsch und Juschtschenko jetzt miteinander reden, „sei doch nur Show fürs Ausland“. Schließlich müsse man der EU irgendwas bieten, wenn die schon ihren Auslandskoordinator Solana schickt. Mit ihm hatten Kutschma, Janukowitsch und Juschtschenko am Freitag stundenlang verhandelt und am Ende neben dem Versprechen, keine Gewalt auszuüben, auch die Einsetzung von Arbeitsgruppen vereinbart. Danach hatte Juschtschenko der Regierung auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz ein Ultimatum von zwei Tagen gestellt, konkrete Vorschläge zu machen. „Klar, Kutschma spielt auf Zeit“, sagt der zierliche Lockenkopf Larisa, „der will einfach warten, bis die Leute müde werden.“ Allerdings, sagt auch sie und steckt die Nase in den Teebecher, gebe es zu Verhandlungen keine Alternative.
Ein junger Mann zwei Reihen hinter ihr pflichtet bei und findet, immerhin müssten Janukowitsch und Kutschma jetzt anerkennen, dass im Land nicht „alles normal“ sei, wie es der Ministerpräsident Mitte der Woche noch behauptet hatte. „Wir müssen unseren Druck jetzt aufrechterhalten“, sagt er, „bis sie ganz konkrete Vorschläge für Neuwahlen machen.“ Natürlich müsse das Wahlgesetz geändert und müssten die vielen Fälschungsmöglichkeiten beseitigt werden. „Jeder muss da wählen, wo er wohnt, basta“, sagt der Blondschopf. Larisa zuckt mit den Schultern. „Wir müssen einfach so lange hier bleiben, bis Kutschma und Janukowitsch verstehen, dass sie gegen uns keine Chance haben.“