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Archiv-Artikel

Alle Probleme des Jahrhunderts

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Noch überstrahlt in Südafrika die dünne Ideologie der„Regenbogen-Nation“ die Spannungen„Wir haben Mandela gemacht. Aber stabile Institutionen zu schaffen dauert noch zwei Generationen“

„You can make a difference.“ Wo stand das geschrieben? War es eine Werbung für Benetton oder das Rekrutierungsplakat der South African Police Force? Keine Ahnung, nach zehn Tagen Johannesburg. Was verbindet Sandton mit Soweto? Sandton, die Festung aus Banken, Malls, Schusswaffendrohung und Lounges. Hier treffen sich die alten Millionäre mit den neuen. Die haben ihre Investitionen aus der Kampfzeit längst an der Johannesburger Börse realisiert und höhnen in Lifestyle-Magazinen: „Warum sollte sich ein schwarzer Kapitalist wie ein Sozialist benehmen?“

In Kliptown am Rande von Soweto sind die Straßen immer noch nicht aus Asphalt, sorgt der Zustrom von Armutsemigranten aus Simbabwe und Mosambik für neue Spannungen, teilen islamische und christliche Fundamentalisten in selbst gewählter Segregation die Viertel auf, flüchten sich ein paar tapfere Lokalpolitiker in immer neue Broschüren, weil die Umverteilung der Mittel im Großraum Johannesburg nicht vorankommt. Wo, bitte sehr, ist hier eine – Gesellschaft?

„You can make a difference“ –Dan hatte das grade gesagt. Daniel Motshaba in seinem Friseursalon in der Garage in Orlando East. Dans Lehrling ist vor ein paar Wochen abgehauen, die elektrischen Werkzeuge und den Scherensatz hat er mitgenommen. „Sie wollen alles haben und sofort“, sagt er. „Diese Jungen haben unseren Kampf nicht mitgemacht, sie wissen nicht, dass es lange dauert, bis man eine kleine Verbesserung für alle erreicht.“

Als 1974 die Unruhen begannen, war Dan dreißig und kündigte als Lehrer, weil er nicht in Afrikaans unterrichten wollte. Vor drei Jahren hat er seinen Salon downtown Johannesburg aufgegeben. Die Klienten hatten die City den Schwarzen überlassen und waren nach Sandton in den Norden gezogen, wo die Miete für Dan unerschwinglich ist. Die Kunden in Orlando lasten ihn nicht aus, also ist Dan unbezahlter Entwicklungshelfer geworden. Unten, beim Büro des Christlichen Vereins junger Männer, hat er einen Gemüsegarten angelegt. „Soll ein Modell sein“, sagt er. „Ich will den jungen Frauen zeigen, dass man sich selbst versorgen kann.“ Am Rande seiner Straße hat er alle zwanzig Meter einen Baum gepflanzt. „Ich sage es allen meinen Nachbarn: Pflegt nicht nur die Gärten der Weißen, sondern tut etwas, damit es hier schöner wird.“

Man könnte Dan zum leuchtenden Beispiel der Versöhnungspolitik stilisieren, die seit l994 die Rhetorik der ANC-Regierung bestimmt. „Wir können nicht ohne die Weißen. Sie haben so viel zerstört – das können wir nicht allein reparieren. Wir haben uns mit der Vergangenheit versöhnt. Aber“, das kommt vorsichtig, nachdem er die Haare eine Weile schweigend geschnitten hat, „sie müssen begreifen, dass sie mehr zurückgeben müssen.“

Versöhnung – das Wort überdeckt immer noch die alten und neuen Gegensätze Südafrikas. In sieben Sprachen versichern die Superreichen und die Ärmsten einander, dass der Frieden wirklich friedlich ist, dass es heute besser sein wird, als es gestern noch war. Aber downtown, wo tausende von ambulanten Händlern Tomatenkonserven und Plastikspielzeug aus China anbieten, und am Rande der Townships sind die Blicke der 16-Jährigen abweisend, ängstlich, zukunftslos.

Die Arbeitslosigkeit hat sich seit 1995 verdreifacht, die Kaufkraft der Arbeiter ist um ein Drittel gesunken. Der Kurs der Währung steigt und steigt, die Rohstoffexporteure und die Finanzspekulanten profitieren davon, das Kapital bleibt flüssig und fluchtbereit. So heroisch die Regierung Mbeki den Aufbau neuer Institutionen und einer neuen Arbeitspolitik betreibt – es geht zäh voran. Die Beharrung der einen und die Unterqualifizierung der anderen hemmen die Integration. Aber noch strahlt über allem die dünne Ideologie der „Regenbogen-Nation“. Im Fernsehen schwarz-weiße Ärzte-Soaps, endlose Debatten über die „afrikanische Renaissance“, farblich korrekte Aufsichtsräte.

Und die Menschen in Soweto? Schicken ihre Kinder, wenn’s irgend geht, in die Schulen der reichen Vorstädte, für zwei Monatsgehälter pro Jahr und Kind. Adoptieren Aids-Waisen aus der Großfamilie, 15 Prozent der Kinder werden in zehn Jahren ohne Eltern sein. Vermieten ihre Gärten an Flüchtlinge und Jobsucher.

Wenn die Weltkulturorganisation Unesco beschlösse, alle, wirklich alle Widersprüche des neuen Jahrhunderts in einem Modell darzustellen, sie hätte Südafrika gewählt. Ethnisch tolerante Finanzspekulanten. Arbeiter, die allenfalls streiken, wenn der christliche Unternehmer sich weigert, gegen „schlechte Geister“ einen Wunderheiler zu engagieren. Theatergruppen, die den Kampf gegen Aids mit den Mitteln finsterster Frauenverachtung betreiben. Die Abwanderung der Ärzte und Ingenieure nach Australien. Nackter Hunger und immer noch die Peitsche im Innern des Landes. Internationaler Nierenhandel in staatlichen Kliniken mit tausend Prozent Profit. Die Bedrohung der Männer durch Oxford-englisch sprechende schwarze Frauen in weißen Mittelklassewagen. Mörder aus der alten Elite, die frei herumlaufen und kichern, wenn die ANC-Kader sich in Tribunalen über die Verräter aus den eigenen Reihen verfransen. Privatisierungsgewinne in Milliardenhöhe. Und eine Regierung, die machtlos ist gegen die Drohungen der Finanzmärkte.

„Unordnung“ ist das einzige Wort, das mir nach zehn Tagen Vorortwanderungen einfällt. Aber Unordnung – ist das eine theoretische Kategorie? Ja, sagt schon lange Immanuel Wallerstein, der großflächigste unter den Weltmarkttheoretikern. Die alte Ordnung sei dahin, und eine schwarze Periode von dreißig Jahren Instabilität lägen vor uns, bis eine neue politische Struktur sich etablieren werde. Weiß der Teufel, wie er auf dreißig Jahre kommt; und außerdem, so fügt er hinzu, wisse man nicht, ob die neue Stabilität, die sich irgendwann einstellen werde, schlimmer oder besser sein werde als – diese Unordnung. Dann toppt er den Marxismus mit dem Existenzialismus: In solchen Übergangszeiten, in denen die Institutionen aufgelassen sind, komme der Individualität der Einzelnen große Bedeutung zu.

Nun, wir im Norden stehen erst am Anfang dieser Art Freiheit. Hier sind sie schon ein wenig weiter: Dan, der die Straßenränder bepflanzt. Geraldine, die Bibliothekarin, die vor der Beschneidung floh und nun Kinderbücher in die Budenstädte trägt. Paul aus alter Burenfamilie, der die Dörfer am Kruger-Nationalpark vor der Ausplünderung durch Bodenspekulanten schützt. Sechaba, Leiter des Bürgerbüros in Orlando, sagt: „Wir haben Mandela gemacht. Mbeki baut Institutionen, aber so etwas dauert zwei Generationen.“ Der Kampf beginnt erst, sagen die „educated upward mobile“ und lassen lachend offen, ob sie ihren oder den Klassenkampf meinen. Auf absehbare Zeit wird Aufklärung Breitensport unter dem offenen Himmel der Geschichte bleiben. Und der Durchreisende fragt sich, was passieren würde, wenn wir diese Energie hätten, anwendeten, wendeten. „You can make a difference“ – das ist nicht von Benetton, das ist von Dan.