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Archiv-Artikel

Das Geräusch vor dem Schuss

Man quetscht sich in die Rollen tickender Zeitbomben wie in zu kleine Kostüme: Nach „Nora“ inszeniert Stephan Kimmig nun „Hedda Gabler“ am Thalia Theater Hamburg. Gegenwart plus Depression: Auch auf der Bühne sind die fetten Zeiten vorbei

VON SIMONE KAEMPF

Wenn Hedda mit der Waffe zielt, dann entpuppt sich eine Scharfschützin, die ganze Arbeit leistet. Konzentriert und präzise. Jeder Treffer einer ins Schwarze. Mehr als hundertzehn Jahre nach dem Erscheinen von Ibsens Drama ist die Pistole, die ihr Vater Gabler ihr hinterließ, nicht mehr Nervenkitzler, sondern Beruhigungspille. Hedda, eine Hobbyschützin, die entspannt, wenn das Metall einrastet und die Ohrenschützer sitzen. Weggedämmt von dieser Welt, denn in der kennt sich Hedda Gabler nicht so gut aus. Wenn die Waffe wieder verschwindet, offenbart sich ein Rehkitz, das wie vom Autoscheinwerferlicht geblendet die Orientierung verliert und auf langen Beinen durch die weiße Luxus-Wohnzimmerwelt stakst. Die ganze Bandbreite der Widerspüche Hedda Gablers, wie wir sie bei Stephan Kimmig zu sehen bekommen.

Warum ist sie bloß so nervig unentschlossen, so aufgeregt antriebslos? Schon viele haben ohne befriedigendes Ergebnis gerätselt, wie die Enden dieser Figur zusammenzubekommen sind. „Es ist schön, für ein Ziel zu streben. Sogar für einen Irrtum – sie kann es nicht. Kann sich nicht entscheiden. Und erschießt sich“, steuerte Ibsen selbst als unzureichende Erklärung bei, warum es für die Widerspruchsträgerin keinen dritten, eigenen Weg gibt.

Den Teufelskreis zu durchbrechen und in die Zukunft aufzubrechen – was „Nora“ gelang, ließ Ibsen Hedda Gabler zehn Jahre später nicht mehr möglich sein, als habe da ein Dramatiker mit den Jahren resigniert. In beiden Stücken offenbart sich in wenigen Minuten die Demaskierung einer Ehe, und vor zwei Jahren konnte man Kimmigs „Nora“ hautnah dabei zusehen, neue Ordnung in ihr Leben zu bringen. Jetzt übernimmt Susanne Wolff auch die andere Rolle: die Unordnung auf die Spitze zu treiben. Gehetzt, getrieben, in zielloser Unzufriedenheit mit dem Leben. Ein pathologischer Fall, dem nicht zu helfen ist, auch nicht von einem Mann, der wesentlich attraktiver ist als der dickliche Stubenhocker Tesman, den Ibsen noch vorsah.

Die Versorgungsehe hat ihr ein schneeweißes Luxus-Puppenheim gebracht, in dem sie von ihrem zweifelhaften Vorleben eingeholt wird. Eilert Lövberg, ihre Jugendliebe, ist wieder in der Stadt und hat dabei nicht nur ein Buch, das den Aufstieg ihres Mannes in die Professorengehaltsklasse gefährden könnte, sondern auch Thea, ein Quell für Heddas neu entflammte Eifersüchteleien.

Bei dem ritualisierten Schulterklopfen und großen Hallo des ersten Treffens scheinen sich alte Freunde aus der Schulzeit zu begrüßen. Erst mal zusammenhocken, könnte man denken, erst mal reden, was seitdem so alles passiert ist, aber sie sind alle aus einer Gegenwart Kimmigs erfunden, in der das beschleunigte Anspruchsdenken aus Neid, Gier und Ich-Optimierung sich auch in Freundschaften einfrisst.

„Ich will, dass die Leute wissen, wer der Bessere von uns beiden ist. Ich will dich besiegen“, eröffnet Lövberg den Wettbewerb. Aber seine Fahrigkeit und Nervosität bilden die Vorzeichen des pfeilschnellen Absturzes des Borderliners, als den ihn Hans Löw gibt. Blass bleibt Fritzi Haberlandt als fahriger Krankenschwestertypus mit Helfersyndrom, deren Schmalspurpsychologie irgendwann im Herumbrüllen versickert. Man quetscht sich in die Rollen von tickenden Zeitbomben wie in zu kleine Kostüme, und nur Susanne Wolff darf ein feiner gesponnenes Seelenleben herausspielen.

Katrin Haß hat dafür einen weißen Raum gebaut, der zwischen Luxuswohnung und Klinikum atmosphärisch die Waage hält. Den Figuren selbst gelingt das weniger. Die Inszenierung leidet daran, dass die sinnvoll angedeuteten Motive des Stücks in dem Rauschen von Aggression und Depression untergehen. Eine ganze Generation gefangen in der Depressionsfalle, in der alles Denken gelähmt bleibt und die Körper umso stärker zappeln. Und Susanne Wolff zieht in der Wohnung ihre Runden wie ein Raubtier im Käfig, dessen innere Unruhe nach äußerer Bewegung verlangt.

Die depressive Grundstimmung doppelt Kimmig auf mehreren Ebenen. Dieses Zelebrieren der Stimmung, nicht der Textdramaturgie, macht, das muss man sagen, eine besondere Qualität aus. Einerseits nuanciert das weiße Bühnenlicht in einem ausgetüftelten Lichtsystem und führt Stimmungswechsel herbei, die sich ins Unterbewusstsein der Inszenierung einnisten. Andererseits hat Michael Verhovec einen Soundtrack geschrieben, der diesen Abend wie ein Zahnrad weiterdreht: ein metallisches Klackern, das im Laufe des Abends neue Assoziationen weckt. Anfangs wie das Nachladen eines Revolvers, dann das Wechselgeräusch eines Diaprojektors, das mit den Schwarz-Weiß-Blenden auf der Bühne korrespondiert, am Ende ein Beatmungsgerät, bevor sich Hedda auf den Knien hockend mit einem Kopfschuss selbst erledigt. Eine Präzisionsarbeiterin der Selbstzerstörung, nicht des Lebens. Aber nicht nur das ist der pessimistische Tenor des Abends: Man hat einfach nie den Eindruck, dass es zwangsläufig so kommen musste.