: In der problematischen Grauzone
Der UN-Bericht gibt grünes Licht für „präemptive“ militärische Maßnahmen
GENF taz ■ Wie lässt sich der Wille eines Staates, gegen eine von ihm als unmittelbar empfundene Bedrohung militärisch unilateral vorzugehen, vereinbaren mit den Bestimmungen der UNO-Charta? Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 – und verschärft seit dem Irakkrieg – steht diese Frage ungelöst im Raum.
Als UNO-Generalsekretär Kofi Annan im Herbst 2003 das „High Panel“, ein Expertengremium aus 16 Ländern, berief, gab er ihm den Auftrag, eine Antwort auf diese Frage zu formulieren. „Das ist unmöglich, das wäre die Quadratur des Kreises“, merkten Kritiker damals an. Tatsächlich ist die Antwort des Panels höchst ambivalent ausgefallen. Zum einen hält es in seinem Bericht – deutlicher als in einem früheren Entwurf – fest, es gebe keine Notwendigkeit zur Neuformulierung oder auch nur zur erweiterten Anwendung des die Selbstverteidigung betreffenden Artikels 51 oder anderer Bestimmungen der UNO-Charta. Der Bericht betont die Notwendigkeit, die kollektive Fähigkeit des Sicherheitsrates zu stärken, damit er auf Bedrohungen so rechtzeitig und wirksam reagieren kann, dass gar nicht erst die Situation entsteht, in der ein UN-Mitglied meint, unilateral militärisch handeln zu müssen.
Auf der anderen Seite billigt der Rat dann aber doch einzelnen Staaten das Recht zu, auf „unmittelbare“ Gefahren „präemptiv“ zu reagieren – ohne vorherige Ermächtigung durch den Sicherheitsrat. „Unmittelbar“ wird in dem Bericht nicht eindeutig definiert. Damit bleibt die Entscheidung darüber, was eine unmittelbare Gefahr ist, letztlich den jeweiligen Staaten überlassen.
Zwar erklären Mitglieder des Panels auf Nachfrage, vom Irak sei im Frühjahr 2003 keine „unmittelbare“ Gefahr ausgegangen, die eine „präemptive“ militärische Reaktion gerechtfertigt hätte. Das Dilemma bleibt jedoch, dass die USA und Großbritannien seinerzeit ihren Krieg unter anderem mit einer solchen „unmittelbaren“ Gefahr gerechtfertigt hatten – etwa mit der Behauptung, Saddam Hussein könne innerhalb von 45 Minuten Atomraketen auf Westeuropa oder die USA abschießen.
Für Bedrohungen, die noch nicht „unmittelbar“ sind, hält der Bericht zwar fest, dass „präventive“ militärische Maßnahmen gegen derartige weiter entfernte Gefahren nur nach Beschluss des Sicherheitsrates möglich sein sollen. Mangels klarer Definition und Abgrenzung von und zwischen „unmittelbaren“ und „mittelbaren“ Bedrohungen bleibt hier allerdings eine problematische Grauzone. Welche Bedrohungen „präemptive“ und welche „präventive“ militärische Reaktionen erfordern beziehungsweise rechtfertigen, ist damit im Ernstfall der Entscheidung einzelner Staaten überlassen. ANDREAS ZUMACH