: Berlin, wo mag das sein?
Die Ausstellung „Verortung – Abgeordnete zeichnen ihr Berlin-Bild“ zeigt die Stadt als spaßfreie Diaspora – glücklich ist schon, wer statt Thrombose eine Stammkneipe hat
Wo Volksvertreter an ihren hochfliegenden Plänen feilen, darf es ruhig ein wenig nach Flughafen ausschaun: Check-in-Schalter dominieren den Eingang des Paul-Löbe-Hauses; wer rein will, sollte einen Boarding-Pass besitzen. Passkontrollen, Anzeigetafeln und blau uniformierte Hostessen komplettieren das Bild; kein Wunder, dass in diesem Ambiente selbst der Chef persönlich etwas durcheinander bringt.
Gerade noch hat Bundestagspräsident Wolfgang Thierse die Ausstellung „Verortung – Abgeordnete zeichnen ihr Berlin-Bild“ eröffnet, da erinnert er sich schon daran, was er auf langen Überseeflügen gelernt hat: Während sein Nachredner die meist hilflosen Skizzen seiner Kollegen mit Marcel Proust kurzzuschließen versucht, sitzt Thierse mit halb geschlossenen Augen in der ersten Reihe und massiert seine Knie und Unterschenkel. Thrombosevorsorge auch auf Ausstellungseröffnungen; so viel Zeit muss sein.
Dabei schien Thierse nicht mal bewusst zu sein, dass er mit seiner kleinen Einlage das ernüchternde Ergebnis der Ausstellung symbolisch vorwegnahm: Genau wie Langstreckenpassagiere scheinen auch Bundestagsabgeordnete einen extrem eingeschränkten Radius zu besitzen. Wo sich Erstere zwischen Sitzplatz und Toilette bewegen, sind Letztere zwischen Reichstag, Büro und ihrer Wohnung am Potsdamer Platz unterwegs; ein, wie manche Zeichnungen eindrucksvoll demonstrierten, geistige Thrombose fördernder Teufelskreis.
„Welche Orte sind für sie von Bedeutung?“ und „Welche Wege legen sie zurück“ waren die Fragen, die die Organisatoren mit der Bitte um Verbildlichung an alle 625 Bundestagsabgeordneten schickten. Die circa sechzig skizzenhaften Antworten zeichnen ein klaustrophobisches Berlin-Bild mit besonderer Betonung der Fluchtwege. Kaum ein Abgeordeneter, für den „Tegel“, „Zoo“ und „Tempelhof“ keine Sehnsuchtsorte wären, kaum einer, der es wenigstens zu einer Stammkneipe gebracht hätte. Berlin als spaßfreie Diaspora: „Zu wenig Zeit für Kultur, Fun und Shopping“, wie einer der Vernissagen-Besucher zu berichten weiß.
Doch wo der eine beklagt, zu wenig Zeit zu haben, die Diäten unters Wahlvolk zu bringen, treiben manchen Kollegen gänzlich entgegengesetzte Dinge um: So scheint es Tobias Pforte hauptsächlich zu interessieren, wo in Berlin das billigste Essen abzugreifen ist. („Pizzeria: alle Gerichte 3 Euro, Espresso 80 Cent“).
Ebenfalls aus dem Rahmen fallend und nicht minder aufschlussreich ist der Beitrag von Peter Lohmann. Unter seiner Zeichnung von zwei kuschelnden Bären ist sogar Platz für ein bisschen Statistik. „300.000 Schwule und Lesben leben in Berlin“, weiß er zu berichten, sowie: „Berlin ist mega-gay 2000“. Da muss auch die Dame vom Gesundheitsausschuss lachen.
Wirklich verdächtig macht sich allein Cornelia Rieck, deren mental map, vom Teufelsberg und der Spandauer Zitadelle bis nach Karlshorst, derart detailliert geraten ist, dass die Kollegen über mangelnden Arbeitseinsatz spekulieren. Wer die Hasenheide kennt, so das traurige Fazit, kann keiner von uns sein. Oder, wie es der stellvertretende SPD-Fraktionvorsitzende Gernot Erler formuliert: „Berlin, wo mag das sein? Ich bin immer nur hier.“ CORNELIUS TITTEL
Bis 2. Januar, Mo 8–16, Di–Do 8–17, Fr 8–14 Uhr, West-Foyer des Paul-Löbe-Hauses, Konrad-Adenauer-Str. 1, Mitte