: Die Verschonung des Publikums
KEVIN-THEATERSTÜCK Drei Jahre nach dem „Fall Kevin“ beschäftigt sich das Bremer Theater mit dem Thema Kinderverwahrlosung. Das Stück dazu hat Martin Crimp schon 1991 geschrieben. Oldenburg zeigt eine wesentlich aktuellere Arbeit mit halb dokumentarischem Charakter
Das Schicksal des zweijährigen Kevin aus Bremen-Gröpelingen machte 2006 bundesweit auf das Thema Kindesmisshandlung aufmerksam. Der Junge war von seinem suchtkranken Vater so schwer misshandelt worden, dass er Knochenbrüche davontrug und starb. Die Leiche des Kindes wurde in der Kühltruhe des Vaters entdeckt. Der Fall löste ein Debatte über das Versagen der sozialen Dienste aus. Bremens Sozialsenatorin Karin Röpke (SPD) trat zurück.
VON HENNING BLEYL
Es ist eine letzte gute Tat des scheidenden Bremer Hausregisseurs Christian Pade, dass er die Aufnahme von Martin Crimps „Das stille Kind“ in den Spielplan durchgesetzt hat. Bremen hat in der trostlosen Chronologie von neueren Kinderverwahrlosungs- und Tötungsfällen 2006 mit Kevin den Anfang gemacht. Das Theater der Stadt bemüht sich mit allen Kräften um die maximale Auslastung des Musicals „Marie-Antoinette“ – da muss man nicht erst die Definition von Theater als „moralischer Anstalt“ bemühen, um nach der Bearbeitung von brennenderen Themen zu fragen.
Pade tut es trotzdem. Doch seiner konkreten Umsetzung der Schiller’schen Sentenz fehlt die dramaturgische Wucht, was wiederum auch mit der Stückwahl zu tun hat: „Das stille Kind“ ist ein relativ konventionell gebautes Psychodram.
Überdies unterlegt Pade die Handlung von Anfang an mit dräuenden Elektro-Unheilsklängen – also ob es dieser akustischen Fingerzeige auch nur annähernd bedürfte, um das bittere Ende anzudeuten. Hinzu kommt eine scharf akzentuierende Lichtsetzung, inklusive einer ebenso gespenstisch wie andeutungsvoll ausgeleuchteten Kühltruhe.
Pades hinweisreiche Inszenierung hinterlässt das Bedürfnis nach mehr. Was aber fehlt? Die SchauspielerInnen sind gut. Johanna Geißler gibt die propere Proll-Beauty Carol – die Mutter – ebenso stilsicher wie Martin Baum den latent gewaltbereiten Stiefvater Nick. Dessen „Alles was ich will, ist ein bisschen Respekt“, an die Adresse der kleinen Sharon gerichtet, gerät zur allgegenwärtigen Drohung.
Crimp zeigt Nick nicht als Monster, sondern als Mann mit Prinzipien – bei dem Standard-Forderungen wie den Teller leer zu essen allerdings zu akuter Unterernährung führen. „Du weißt, sie hat die Pizza gewollt“, herrscht er seine Freundin an. Also bekommt Sharon dasselbe Stück auch nach Tagen noch vorgesetzt.
Was will man noch erfahren? Es sind nicht die ausbleibenden Antworten auf naheliegende Warum-Fragen, die Stück und Inszenierung so wenig komplex, so unüberraschend machen. Weshalb der Mann gewalttätig, die Frau so angepasst wie abgelenkt, die Sozialarbeiterin überfordert ist und die Nachbarn auch nicht hilfreich sind – für all das haben die Zuschauer ohnehin bereits Erklärungen im Kopf. Seit dem Entstehen des Stücks vor 18 Jahren konnte jeder jetzige Theatergänger Allzuvieles und Detailliertes über Kinderverwahrlosung erfahren.
Bei Crimp deutet sich der Horror hingegen nur an. Das Kind bleibt unsichtbar, seine Zimmertür verschlossen. Lediglich mit einer Lampe macht es hin und wieder auf sich aufmerksam oder zieht den Zorn der Erwachsenen auf sich, die sich durch das brennende Kinderzimmerlicht an ihren Abendvergnügungen gehindert fühlen.
Als Problem des Stückes erscheint also paradoxerweise sein Thema: Es schont sein Publikum, weil es kaum anders kann. Wie und von wem sollte Kindesmisshandlung auf offener Bühne auch dargestellt werden? Zwangsläufig bleibt jede „schlichte“ Dokumentation des Elends, auch Michael Kumpfmüllers literarische Verarbeitung „Durst“, verstörender als das vermeintlich wirkungsmächtige Spiel mit der Abwesenheit des Opfers.
Es sei denn, das szenische Verharren bei Eltern, Nachbarn und Sozialarbeiterin würde mehr zu Tage befördern als die bekannten Verhaltensmuster. Etwas anderes also als eine räsonierende Obermieterin (wenn auch von Gabriele Möller-Lukasz glänzend gespielt), die sich im Rückblick über angemessene Freiheitsstrafen ereifert. Oder den schönen Satz sagt: „Ich hätte gedacht, dass so eine Familie auf irgendeiner Liste stehen muss.“
Pade umrahmt die Handlung mit einer Affen-Invasion, die sowohl als Medienmeute am Tatort zu deuten ist, als auch als Durchbruch des Bestialischen durch die zivilisatorische Firniss. Das ist metaphorisch eingängig – und wenig weiterführend.
Während Crimp nichtsdestoweniger das Verdienst zukommt, das Thema 1991 überhaupt auf die Bühne gebracht zu haben, kommt im Oldenburger Staatstheater nun ein deutlich aktuelleres und zugleich hintergründigeres Stück zur Aufführung: „Kaspar Häuser Meer“ fokussiert die komplexen Zusammenhänge, die zu Verwahrlosung und Tod führen, in der Perspektive dreier Sozialpädagoginnen. Nach dem Burn-out eines Kollegen müssen sie dessen 104 nur lückenhaft dokumentierten Betreuungsfälle mit erledigen. Um Überforderung und das Delegieren von Verantwortung in Verwaltungsvorgängen zu analysieren, hat die Autorin Felicia Zeller unter anderem in Bremer Ämtern hospitiert und dort zahlreiche Interviews geführt.
Am Mittwoch ist in Oldenburg Premiere, die Uraufführung fand Anfang vergangenen Jahres in Freiburg statt. Das dortige Theater hatte Zeller nach Bekanntwerden des „Falls Kevin“ mit einem Stück zum Thema beauftragt. Damit Zellers dramatisierte Recherche-Ergebnisse zumindest in der Region zu sehen sind, bedurfte es also eines Umwegs bis zum anderen Ende der Republik.