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Archiv-Artikel

Weißt du, was mit dir los ist?

AUS SOWETO AXEL TELZEROW

Man sagt, dieses Krankenhaus sei das größte der südlichen Hemisphäre. Man sagt, was man hier in einer Woche sieht, sieht man in anderen Krankenhäusern in einem Jahr. 1942 wurde es mit einer Kapazität von 1.500 Betten eröffnet. Die Briten nannten es Imperial Military Hospital. Heute heißt es Chris Hani Baragwanath Hospital – kurz Bara – und hat 2.500 Betten, doch die reichen kaum noch.

Die Betten sind ständig belegt, die Ambulanzen immer überfüllt. Permanent strömen die Menschen durch die in Hellblau und Rosa gestrichenen Eingangstore auf das weitläufige Areal der Klinik und stellen sich bei den Ambulanzen an. Man sagt, jeden Tag sind es mehr als tausend Menschen, denn Bara versorgt Soweto, das Township im Südwesten Johannesburgs.

Ärzte und Pflegepersonal erzählen, Bara sei früher anders gewesen. Früher, das war die Zeit vor Aids. Damals kamen Patienten mit vielen unterschiedlichen Krankheitsbildern, man hatte etwas mehr Zeit für jeden von ihnen. Heute ist offiziell jeder fünfte Südafrikaner zwischen 15 und 49 Jahren mit HIV infiziert. Auf manchen Stationen im Krankenhaus sind es über siebzig Prozent.

Viele Leute sind schon sehr schwach, wenn sie nach Bara kommen: Sie werden geschoben, getragen, geführt. Viele sind kraftlos, haben eingefallene Wangen und ausgehöhlte Schläfen. Doch es sind vor allem die riesigen Augen, die aus den ausgezehrten Gesichtern hervorstechen. Die Patienten können sich die klägliche Krankenhausgebühr meist nicht leisten, deswegen kommen sie erst, wenn es ihnen so schlecht geht. Eine Mahlzeit ist dann die erste medizinische Behandlung. Wer noch sitzen kann, reiht sich zu anderen auf eine lange Bank. Viele Patienten aber müssen gebettet werden. Schwestern und Ärzte legen Zugänge für Flüssigkeit und Elektrolyte. Das ist leicht, denn die Arme sind so dünn, dass die Venen gut hervortreten. Dann müssen sie warten und warten – bis sie an der Reihe sind.

Hier werden Patienten oft mit „Baba“ oder „Mama“ angesprochen. Eigentlich sollen diese Bezeichnungen in Südafrika Respekt bekunden, aber bei so vielen Menschen sind sie vor allem sehr praktisch. Das EKG und das mobile Röntgen sind im Dauerbetrieb. Die Kapazitäten und Ressourcen sind so knapp, dass die Patienten nach wenigen Tagen entlassen werden. Oft hat sich ihr Zustand nur wenig gebessert, aber andere Menschen benötigen auch Hilfe. Der Strom am Kliniktor reißt nicht ab.

Menschen über Menschen: Ein Junge, 17, wird eingewiesen, weil er nicht mehr ansprechbar ist. Der Nacken ist steif, er hat wahrscheinlich eine Infektion des zentralen Nervensystems. Die Eltern bringen ihn, zu Hause können sie ihn nicht mehr versorgen. Fassungslos stehen sie neben der Liege mit dem Kind, das von Aids ausgezehrter aussieht als sie selbst durch die Armut.

Bara ist ein Ort der Gegensätze, verschiedener Kulturen, Religionen und Sprachen. Es wird Xhosa, Zulu, Englisch gesprochen, manchmal muss jemand übersetzen. Ärzte haben eine Universität besucht, Patienten vielleicht eine Schule. Die einen hatten Zugang zu Bildung, die anderen nie eine Chance. Patienten leben in Soweto, die Ärzte leben in den sicheren und bewachten Gegenden mit den hohen Zäunen. Beide treffen hier aufeinander.

Wie erklärt man einer jungen Mutter von zwei Kindern, dass sie HIV hat? Die Frau kam wegen allgemeiner Abgeschlagenheit und Husten mit Auswurf in die Ambulanz und liegt nun auf der Station. Im Vergleich zu vielen anderen Patienten erscheint sie gesund: Sie redet lauter, ist lebhafter und spricht über ihre Kinder. Eine glückliche Mutter. Ihr Mann hat einen Job als Lkw-Fahrer. Diese Familie hat ein Einkommen, nicht viel, aber es scheint zu reichen. Ihr Mann ist selten zu Hause. Er fährt weite Strecken. Die Ärzte fragen, ob sie auch einen HIV-Test machen dürfen. Sie wundert sich, willigt aber ein, denn Medizinern wird vertraut. Sie weint, als sie das Ergebnis hört, sorgt sich um die Kinder.

Auf der Außenseite der Mauer, die das riesige Gelände von Bara umgibt, ist eine Werbung für den HIV-Schnelltest aufgemalt. Richtig groß und in Farbe, die rote Schleife darf nicht fehlen: „Weißt du, was mit dir los ist?“ Es wird versucht, Bewusstsein zu schaffen. Im Krankenhaus lehnen Kranke nur noch selten den Test ab. Doch es passiert, dass sie ahnen, was sie haben, aber vor der letzten Gewissheit zurückscheuen.

Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit in Bara: Infizierte Mütter liegen mit ihren Kindern auf der Station, die mit dem Virus geboren wurden. Und das Personal kämpft nicht nur bei den Patienten gegen HIV. Pflegende und Ärzte machen regelmäßig Tests, sie versuchen, vorsichtig zu arbeiten. Doch es passiert, was nicht passieren soll: Der Patient zuckt, als die Spritze bei der Lumbalpunktion ins Rückenmark dringt. Die Hohlnadel rutscht ab, dringt in den Handschuh, die Haut. Die junge Ärztin schreit vor Entsetzen. Dann Tränen. Fassungslosigkeit macht sich breit. Die Wunde wird gespült. Andere kommen, um zu trösten und vorzurechnen, dass das Risiko einer Infektion sehr gering sei, angeblich. Eine dünne Nadel und ein dicker Handschuh senken das Risiko erheblich, angeblich. Wieder andere meinen, ihnen sei das auch schon passiert. Für solche Unfälle gibt es Sofortmedikationen, um eine Virusmehrung zu unterbinden. Dann muss auf Wochen mit der Ungewissheit gelebt werden.

Die jungen Ärzte, die gerade die Universität abgeschlossen haben, sind stolz auf ihre Fähigkeit, Zugänge in Venen, Lungen und wohin immer zu legen. Es gilt: „You see it, do it, teach it.“ Einmal einen Vorgang sehen, dann selbst ausführen, dann jemand anderen unterweisen. Sie tun Dinge, die in Deutschland nur Oberärzte durchführen. Es geht nicht anders, immer fehlt Personal, und die Patienten werden nicht weniger.

Deswegen kommt auch jeden Tag Dr. Blumsohn ins Bara, um Visiten abzuhalten und Studenten zu unterrichten. Er ist emeritierter Professor und mittlerweile über siebzig. Seine Gestalt erscheint gebrechlich. Aber er bewegt sich schnell, seine Augen leuchten, wenn er über Medizin redet. Man spürt seine Freude und Hingabe. Wenn nicht das Bestmögliche für einen Patienten getan werden kann, ist er betrübt und leidet mit. Oft steckt er Patienten ein Taschengeld zu, damit sie sich etwas zu essen kaufen können.

Menschen mit Aids kommen meist nicht wegen der Immunschwäche selbst hierher. Sie kommen nach Bara wegen so genannter opportunistischer Erkrankungen, zum Beispiel Pilzinfektionen im Rachen, der Lunge, sogar im Gehirn. Es sind eben diese speziellen Infektionen, die den Weg zu der Immunschwäche weisen: Ein gesunder Körper kann viele Erreger abwehren, ein verbrauchter Körper nicht mehr. Das medizinische Personal nennt HIV/Aids-Patienten „retro positive“, da der Virus ein so genannter Retrovirus ist: Durch diese Verschlüsselung kann offen über Patienten und ihre Erkrankung geredet werden. Manchmal ist das aber auch nicht nötig, denn immer wieder wissen Patienten nicht einmal, was HIV ist, obwohl sie Träger des Virus sind. Die Regierung finanziert Aufklärungsprogramme noch nicht so lange.

Oft sind Klagelieder zu hören. Verwandte versammeln sich am Bett, sie jammern und schluchzen. Wieder ein Mitglied verloren! Der Virus verändert die Gesellschaft, das Leben, die Medizin. HIV folgt der Armut. Folgt der Gewalt, den Drogen, mangelnder Aufklärung. Das Elend reduziert die Abwehrkraft. Die Immunschwäche löscht sie aus. In einer schicksalhaften Verbindung mit Tuberkulose und anderen Infektionen. Wer hat hier eigentlich noch kein Familienmitglied verloren?

Der Autor Axel Telzerow, 31, ist Student der Humanmedizin an der Universität Witten/Herdecke. Im Rahmen des letzten Studienjahres absolvierte er sein Tertial der Inneren Medizin im Chris Hani Baragwanath Hospital.