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Archiv-Artikel

Kid Paul wohnt hier nicht mehr

Geschlagene Schlachten, durchfeierte Nächte: Eine Ausstellung mit Party-Flyern im Haus des Lehrers erinnert an legendäre Clubs und längst vergessene Hinterhofkeller und erzählt nebenbei ein noch sehr junges Kapitel Berliner Heimatgeschichte

von TILMAN BAUMGÄRTEL

Schon die Aussicht ist spektakulär: Aus dem 15. Stock des Hauses des Lehrers blickt man auf den Alexanderplatz herab. Nach Einbruch der Dunkelheit schlängeln sich im Feierabendverkehr Reihen von Scheinwerfern auf der sechsspurigen Straße zwischen Liebknecht- und Otto-Braun-Straße entlang. Abgas aus hunderten von Auspuffen steigt in der kalten Winterluft empor.

Um aus dem Fenster blicken zu können muss man über eine etwas wackelige Leiter auf eine Empore steigen. Zwischen den Fenstern hängen noch mehr Flyer als unten an den Archivschränken: Einladungen zu illegalen Raves, Werbung für Partys in Clubs wie Tresor, Maria oder Ostgut, in Form von Streichholzschachteln, Ansteckern, Faltvorlagen, Disketten. Hunderte von Flyern, die an lang vergangene, durchfeierte Nächte in Berlin erinnern.

Für zwei Wochen ist unter dem Dach des Hauses des Lehrers eine Auswahl aus der angeblichsten größten Flyer-Sammlung Europas zu sehen, die demnächst die Weihen einer von der Bundeskulturstiftung geförderten Publikation erfahren wird: Zurzeit bereitet man einen Katalog vor, der im nächsten Frühjahr erscheinen soll und auf über 500 Seiten Flyer aus der ganzen Welt dokumentiert. Eine digitalisierte und verschlagwortete Version der Sammlung soll dann im Internet und im Zentrum für Kunst und Medienkultur in Karlsruhe als Datenbank zur Verfügung stehen. Und auch eine Wanderausstellung ist auch schon in Planung.

Die meisten Flyer sind für die Hosentasche oder die Geldbörse gemacht und dürfen auf den Ladentheken, Tresen und Fensterbrettern, auf denen sie meist platziert werden, nicht stören. Die Zettelchen sind darum selten größer als eine Postkarte, und man muss sich schon weit nach vorne beugen, um überhaupt etwas lesen zu können. Dann allerdings kommen Erinnerungen an lange Schlangen in eiskalten Winternächten vor Tresor oder E-Werk hoch. Oder an hoffnungslose Abende in irgendwelchen Berliner Hinterhöfen oder feuchten Kellern, wo inzwischen schon lange keiner mehr feiert.

Die Ausstellung erzählt mit kleinen, bunten Zettelchen ein Kapitel Berliner Heimatkunde, das langsam zur Heimatgeschichte wird: von den fröhlichen Nachwendezeiten, als Mitte noch zur „Zwischennutzung“ zur Verfügung stand und man für wenig Geld an historischen Orten feiern konnte, wenn einem feuchte Decken, fehlende Belüftung und rutschige Treppen nichts ausmachten. Leider ist ein großer Teil der Ausstellung anderen Städten gewidmet. Wer wissen will, wie man in Detroit oder Frankfurt seine Partys ankündigt, kann es hier tun.

Richtig interessant wird es für den Berliner erst, wenn plötzlich Namen wie Turbine, Tekknozid, Planet oder Elektrokohle auf den Flyern auftauchen – einige der Heiligtümer der Berliner Techno-Szene um 1990. Damals waren die meisten Flyer einfarbige Angelegenheit aus dem Copyshop, die in ihrer Schroffheit oft noch an die Ästhetik von Industrial-Gruppen wie den Einstürzenden Neubauten erinnert. Schon farbiges Papier scheint ein Luxus gewesen zu sein.

Ab 1992 setzt sich Farbdruck durch, und die Motive werden immer bunter und merkwürdiger. Man merkt, dass die meisten Gestalter nun über neue Macintoshs mit aktuellen Desktop-Publishing-Programmen verfügen, mit denen man prima Bilder zusammenbasteln oder verwischen und in psychedelische Muster zerlegen konnte. Oft wünscht man sich genauere Informationen über Entstehungsjahr und Gestalter.

Mitte der 90er-Jahre nehmen die Cyber-Themen zu. Die Geschäftstüchtigkeit auch: Das E-Werk preist sich als Location „in der Mitte des neuen Berlins“ an – das scheint an Investoren gerichtet zu sein, die in der Periode der „Raving Society“ dort ein Business-Center einrichten sollten. Auf den Flyern von Jim Avignons Radio-Bar heißt es dagegen zu dieser Zeit immer noch voll Stolz: „No sponsor!“

Peu à peu wird auf den Flyern der ganze Kanon der Popkultur durchzitiert: japanische Manga-Comics, Schulmädchenreport-Plakate, asiatische Nudeltüten, Blaxploitation-Filme, Markenverpackungen, DDR-Relikte, missglückte Ansichtskarten. Wenn die 90er-Jahre die Periode waren, in der die postmoderne Zitierwut ihren Höhepunkt erreicht hatte, waren die Flyer die kondensierte Ausgabe dieses kulturellen Mischmaschs.

Namen tauchen auf, die im Berliner Nachtleben schon lange keine Rolle mehr spielen: Kid Paul oder DJ Dick gibt es nicht mehr, und Derrick May oder Kevin Saunderson waren auch schon lange nicht mehr in der Stadt. Anfang der 90er-Jahre scheint Skudi Optics so ungefähr jede Party in Berlin mit seinen Lichtinstallationen und Diaprojektionen abgerundet zu haben, und Tanith muss der DJ der Stunde gewesen sein: Er taucht auf jedem zweiten Flyer auf.

„Flyersoziotope“. Bis 19. Dezember, Montag bis Freitag 10–20 Uhr, Alexanderplatz 5, 15.Etage, www.flyersoziotope.net