: Große Schatzkammer
„Auswanderung ist kein Thema, Illusionen über Reformen macht sich aber auch keiner mehr“: Frank Meinshausen zeigt mit seiner Anthologie „Das Leben ist jetzt“, dass Chinas junge Autoren derzeit einen entspannten Zugriff auf die Wirklichkeit haben
von SUSANNE MESSMER
Der alte Wan kann einfach nicht verstehen, was mit seinem Sohn los ist. Den seriösen Beruf, die Ölmalerei, hat er einfach aufgegeben. Und auch sonst unternimmt er in letzter Zeit nichts, worauf man als Vater stolz sein könnte: Mal druckt er sich aufs T-Shirt die Worte „Ich bin zu vermieten. Preis nach Absprache“ und spaziert damit durch die ganze Stadt; mal lässt er sich in einem Glaskasten völlig von Insekten zerstechen, „um eine praktische Erfahrung von der eigenen Existenz zu machen“, wie er dann meint. „Aktionskunst, Aktionskunst– die reine Kunst von Bekloppten“, findet der Vater und beschließt also eines herrlichen Nachmittags, sich aufs Dach des eigenen Hauses zu setzen und solange nicht von der Stelle zu rühren, bis der Sohn Vernunft annimmt.
Was die 1972 geborene chinesische Schriftstellerin Dai Lai aus Schanghai, die in China schon zwei Romane veröffentlicht hat, in ihrer Geschichte „Bist du so weit?“ schildert, ist ein Generationskonflikt, wie er auf den ersten Blick auch in westlichen Ländern vorkommt. Nur in wenigen, lapidar hingestreuten Nebensätzen wird man sanft darauf verwiesen, dass es sich bei dieser Auseinandersetzung nicht nur um die hier gewohnte handelt. Der Vater, der glaubt, immer „gewissenhaft“ und „anständig“ gewesen zu sein, wird überführt: „Es war die Zeit, in der sich die Kulturrevolution auf ihrem Höhepunkt befand und er tagsüber damit beschäftigt gewesen war, draußen auf der Straße Losungen zu brüllen“, heißt es da, „was er abends, zurück in der Familie, fortsetzte.“ Dieser Vater hat sich mit Ideen herumzuschlagen, die nicht von irgendwo kommen. Obwohl er von oben betrachtet eher auf der Seite der Täter gewesen sein mag, ist er nun auch Opfer. Und sein Sohn, ein sympathischer Typ, wähnt sich so auf der sicheren Seite, dass er seinem Vater damit Unrecht tut.
Dass die Vergangenheit wieder ins Spiel gekommen ist, dass der Mensch in Chinas neuester und jüngster Literatur wieder zu einem Teil als Produkt der Gesellschaft betrachtet wird, ohne ihn darauf zu reduzieren: Das ist die sensationellste Neuigkeit, die eine Anthologie mit dem guten Titel „Das Leben ist jetzt“ zu bieten hat und neben der Erzählung von Dai Lai zehn weitere Geschichten von Autoren enthält, die zwischen 1961 und 1974 geboren sind. Frank Meinshausen, der 1965 geboren ist, in München als interkultureller Trainer und Chinesischlehrer für verschiedene Firmen arbeitet und selbst sagt, er habe diese Anthologie gemacht, weil er einfach Literatur von Gleichaltrigen habe lesen wollen, ist etwas Wichtiges gelungen: Die von ihm aufgespürten und übersetzten Autoren zeigen, dass Chinas junge Autoren derzeit einen entspannten Zugriff auf Wirklichkeit haben, wie vor ihnen noch keiner. Da sie weder aufs Land noch in die Roten Garden geschickt wurden, geht es ihnen wie vielen nur zehn Jahre älteren Kollegen nicht um die bittere und für die Vielschichtigkeit der Gegenwart oft taube Abrechnung mit den Schrecken der Kulturrevolution – noch haben sie es wie viele gleichaltrige Autoren in den Achtzigern nicht nötig, sich radikal zu verweigern oder ihre Arbeit großspurig auf Ignoranz zu reduzieren.
Folgt man Frank Meinshausen in seinem Vorwort oder spricht man mit ihm über sein Projekt, dann erscheint es einem plötzlich nicht mehr nur als Sensation, dass Chinas Autoren wieder über die Vergangenheit schreiben, ohne damit Richtung Bewältigungsliteratur zu kippen. Es ist auch eine Besonderheit, dass eine solche Anthologie überhaupt in Deutschland zu haben ist. „Das Leben ist jetzt“ versammelt Autoren, die in China zum Teil bereits bekannt sind, deren Geschichten – übrigens ungekürzt – alle dort erschienen sind, die nichtsdestotrotz bislang hierzulande völlig unbekannt sind, aber auch in den USA, einem Land, in dem chinesische Literatur mehr gelesen wird als in jedem anderen außerhalb Chinas und in dem der Stand der Forschung dem in Deutschland um Lichtjahre voraus ist. Unfassbar, wie sehr China, das zur Zeit jeder BWL-Student bereisen will – man denke auch an ausrangierte Magnetschwebebahnen und Atomkraftwerke – literarisch eine Blackbox ist. Es hat etwas von einer Schatzsuche, wenn man Frank Meinshausen in seinem Vorwort auf seiner Reise begleitet – bei diesem Gefühl, fast ahnungslos nach China aufzubrechen, sich ein bisschen durchzufragen und auf einmal begeistert herumgereicht zu werden bei so vielen Spitzenautoren im Wohnzimmer zu sitzen, dass man mit ihnen sicher mühelos drei, vier weitere Anthologien bestreiten könnte.
Aber zurück zum großen Thema dieser Anthologie, zur Vergangenheit, die nicht mehr so schrecklich ist, aber trotzdem immer noch in die Gegenwart ragt und unbedingt ernster zu nehmen ist als zum Beispiel die ach so niedliche DDR. Die von Frank Meinshausen ausgegrabenen Autoren müssen sich nicht mehr gewaltsam von der Nützlichkeitsdoktrin des Sozialistischen Realismus absetzen. Dieser Ideologie gehorcht selbst noch die in Deutschland viel beachtete Narbenliteratur der um 1950 geborenen Autoren, die einerseits die „dunklen Seiten“ der sozialistischen Gesellschaft enthüllt, andererseits oft von der Partei vereinnahmt wird, sofern man sie als Verjüngungskur brauchen kann. Aber auch die Zeit der hermetischen Lyrik, der avantgardistischen Amokläufe und der gleichgültigen Erzählhaltung vieler Autoren, die hier als Popliteratur angekommen ist, scheint vorbei.
Die von Chinas Kulturpolitikern als obskur abgetane Lyrik, die nach einer nicht korrumpierbaren Sprache suchte und in Deutschland in den Gedichten eines Bei Dao angekommen ist, scheint nicht mehr so zwingend, seit keiner mehr über die Verpflichtung der Literatur spricht, verständlich zu sein und das Volk zu erziehen. Die literarische Lust auf die klinisch genaue Darstellung unmotivierter Gewaltorgien, von Entwurzelung und Geschichtsverlust, wie sie Chinas Avantgarde vor den Massakern auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 oft nach postmodernistischem Vorbild aus dem Westen pflegte und in Deutschland in den vergleichsweise harmlosen Büchern von Mo Yan und Su Tong („Das rote Kornfeld“ und „Rote Laterne“) angekommen ist, hat an Schlagkraft verloren, seit Chinas Politiker die brutalen Auswirkungen des Turbokapitalismus geschluckt haben. Und selbst die Bücher von Mianmian und Wei Hui, die vor zwei, drei Jahren in Deutschland erschienen, werden nicht von weiteren Büchern über das leere Leben der hedonistischen Boheme in Chinas boomenden Megastädten gefolgt, von Büchern, die sich vor allem durch ihre gelangweilte Pose dem Spagat zwischen Modernisierung und staatlicher Disziplinierung entzogen. Frank Meinshausens Anthologie legt nahe: Es geht derzeit in China kaum mehr darum, mit traditionellen Leseerwartungen zu brechen, sich möglichst individualistisch, unmoralisch oder politisch desinteressiert zu gerieren. Es sieht so aus, als könnten sich Chinas Autoren wieder mit einer Wirklichkeit einlassen, die sich nicht auf Eindeutigkeit reduzieren lässt. Dazu passt, was Frank Meinshausen über „seine“ Autoren berichtet: „Auswanderung ist kein Thema, Illusionen über Reformen macht sich aber auch keiner mehr.“ Das Gespenst der Zensur ist zahnloser geworden, dafür hat es einen kleinen Bruder bekommen: Die Marktwirtschaft, die die soziale Schere im Land immer weiter auseinander treibt und selbst erfolgreiche Schriftsteller, die der Mittelschicht angehören, selten von ihrem Beruf leben lässt.
Nicht nur in Dai Lais Geschichte vom Vater und vom Sohn hat die Vergangenheit sich wieder in die Gegenwart geschlichen, ohne dass es damit um Bewältigung gehen würde. Auch in einer anderen Geschichte, in „Qimao“ des 1961 in Nanjing geborenen Autors Huang Fan geht es um ein Thema, mit dem man sich auch im Westen identifizieren kann. Der Ich-Erzähler schildert einen Besuch in seiner kleinen Heimatstadt und eine Wiederbegegnung mit früheren Freunden, die den Absprung weniger geschafft haben als er und noch immer in den pubertären Strukturen rivalisierender Straßenbanden festhängen. Dass dies einen Grund hat – dass diese Jungs aus zerstörten Familien stammen, in denen die Eltern während der Kulturrevolution weggesperrt wurden, findet erst spät in der Geschichte Erwähnung. Und auch die Liebesgeschichten, sei es „Sieben Jahre“ der 1974 geborenen Anni Baby oder „Die Problemfrau“ der 1963 geborenen Zhao Ning aus Peking: Immer sind sie vordergründig zeitlos, immer aber spielt auch der Hintergrund der traditionellen Geschlechtervorstellungen in sie hinein, an denen sich ihre Heldinnen abarbeiten.
Frank Meinshausen hat mit seiner Anthologie „Das Leben ist jetzt“ elf Autoren entdeckt und damit elf Empfehlungen an deutsche Verlage ausgesprochen. Keine seiner Empfehlungen bleibt hinter einer anderen zurück. Wenn jetzt der Literaturbetrieb nicht endlich nachzieht, müsste man sich direkt überlegen, ob man nicht selbst einen Verlag für neue Literatur aus China aufzumachen sollte.
Frank Meinshausen (Hg., Übersetzer): „Das Leben ist jetzt. Neue Erzählungen aus China“,.Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003, 260 Seiten, 18,90 Euro