: Bewegt sich was?
Heute wollen die Studenten bundesweit gegen Bildungsabbau demonstrieren. Die Berliner Kommilitonen beschlossen am Mittwoch, ihren Streik bis Anfang Januar fortzusetzen. Zwei taz-Autoren haben die Vollversammlung besucht und berichten aus persönlicher Perspektive über die protestierenden Studierenden: Christian Semler, Jahrgang 1938, und Jan-Hendrik Wulf, geboren 1970VON CHRISTIAN SEMLER
Im Foyer vor dem Audimax der Humboldt-Universität erleuchtet die Wintersonne aufs schönste die Glasmalereien. Die dort versammelten Denker der revolutionären Arbeiterbewegung samt den Humboldt-Brüdern blicken wohlwollend auf die Studis herab, die zur Streik-Vollversammlung zusammenströmen. Auch die 11. Feuerbachthese („Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“) hat sich hier aus der DDR in die Gegenwart retten können. Sie ist durch die Sonne gut illuminiert, wenngleich mit dem fehlerhaften „aber“ (es kommt aber darauf an …) versehen. Das stört nicht. Veränderung ist angesagt. Am Anfang der Veränderung steht die Verhinderung. Verhinderung des Sozialkahlschlags.
Auf der Bühne des Audimax drängen sich die Aktivisten, nur das erhöhte Rednerpult steht verwaist. Dozieren will hier niemand. Was fehlt? Das Ritual. Keine übergroßen Transparente, Fahnen, Sprechchöre, rhythmisches Klatschen. Noch die kleinsten Flugblätter im A6-Format verzichten nicht ganz aufs Argumentieren. Man spart nicht mit Pfiffen, aber jeder darf ausreden.
Die Studis sind zwar massenhaft erschienen, aber keineswegs eine uniformierte Masse. Wir sehen und hören Enthusiasten, pflichtschuldige Mitmacher, Zweifler und auch solche, die sich als „Realisten“ verstehen und den Streik lieber heute als morgen abbrechen würden. Neben mir sitzt eine Kommilitonin, die sorgfältig die Seiten einer Mitschrift nummeriert. Sie sorgt sich, dass das Semester verloren geht, aber schließlich stimmt sie am Ende doch für die Fortsetzung des Streiks. Die Kompromissfraktion, die den Streik künftig auf einen rotierenden Wochentag begrenzen möchte, kann sich nicht durchsetzen.
Was heißt in dieser Situation Realismus? Hohle Durchhalteparolen sind nicht zu hören, wenngleich jeder noch so kleine Erfolg freudig begrüßt wird. Die Studis wissen, dass die Mehrheit der Bevölkerung Berlins den Streik für richtig hält. Das ist die Folge der „nachvollziehbaren Aufsässigkeit“, des geschickten Umgangs mit den Medien, der alles Langweilige vermeidenden Protestformen. Am meisten Beifall erhält eine Sprecherin des Referentenrates, der Streikleitung, als sie ausruft, nur durch anhaltenden Druck werde man den Senat zum Rückzug zwingen. Das ist die Version des Realimus, an der die Mehheit festhält – zumindest noch auf dieser Versammlung.
Die Studis fühlen sich nicht als Avantgarde des sozialen Protests, sie argumentieren aus ihrer bedrängten Arbeits- und Lebenssituation heraus, deshalb suchen sie nach Verbündeten. Gänzlich fehlt die für die Studentenbewegung der 60er-Jahre so typische Reflexion auf den privilegierten Status der Intellektuellen und wie man ihn überwinden kann. Die Zeit der Privilegierung ist eben vorbei.
In der Diskussion mit dem Unipräsidenten Jürgen Mlynek prallen zwei sich ausschließende Prinzipien aufeinader: In eigener Regie kürzen und schließen, um Schlimmeres zu vermeinden, oder Nein zu sagen und den Konflikt riskieren? Mlynek ist ein Exponent der Lehre vom kleineren Übel. Er begrüßt den Streik, aber als Rollentheoretiker. Die Studenten spielen ihren Part und er den seinen. Wobei er, der Wohlsituierte, nichts zu verlieren hat. Die Diskussionsteilnehmer sehen in dieser Haltung einen eklatanten Selbstwiderspruch. Entweder für den Streik – oder dagegen. Ein Sprecher der landwirtschaftlichen Fakultät in Abwicklung bringt es auf den Punkt: Heuchelei. Das allerdings empfinden viele als zu starken Tobak.
Vor der Abstimmung über die Streikfortführung fehlt es fast gänzlich an neurotisierenden Geschäftsordnungsdebatten. Die Studis wollen Ergebnisse, auf sie wartet weitere kräftezehrende Arbeit in der Myriade von Arbeitsgruppen, die sich seit Streikbeginn bildeten und ständig weiter bilden. Frierend, aber gut gelaunt sind sie auf dem Weg zur nächsten „Event“, nicht als Konsumenten, sondern als Selbst-Tätige.
VON JAN-HENDRIK WULF
So war das studentische Protestleben in der bleiernen Ära Kohl: Wer einmal auf der Vollversammlung war, brauchte eigentlich für den Rest seines Studiums nicht mehr hinzugehen. Hatte man sich aber einmal auf seinem Klappstuhl im Audimax zusammengekrümmt, war immer ganz gut zu mitzukriegen, dass die Leute da vorne auf dem Podium sich mächtig in was reingefuchst hatten: Wieder einmal war in den rätselhaften Gremien der Kultusbürokratie irgend etwas ausbaldowert worden, um uns Studenten das Leben schwerer zu machen. Was unmittelbaren Protest erforderte. Aber sobald jemand vorne ein „Wir fordern den sofortigen …“ ins Mikrofon plärrte, überfiel einen im Saal sofort bleierne Müdigkeit. Und ein unstillbares Verlangen. Nicht nach Revolution, sondern nach einem Automatenkaffee der Marke KLIX. Auf den Demos hinterher spielte immer die Sambatruppe der Pädagogischen Hochschule. Wir haben nicht eine Maßnahme verhindert. Damals.
Heute ist alles anders geworden. Auf der Vollversammlung der Humboldt-Universität ist die Stimmung richtig gut. Debbie und Thomas machen die Moderation. Neben ihnen auf dem Podium stehen Rachel und Wolle, die extra zur Unterstützung des Berliner Streiks aus Bremen angereist sind: „Leute, ihr habt ein unglaubliches Potenzial, es ist Wahnsinn!“ Im Saal ertönt enthusiastisches Gejohle. Auch Doro vom RefRat weiß nur Gutes zu vermelden: „Letzte Woche waren wir verdammt erfolgreich. Die PDS hat ihren Wissenschaftssenator zurückgepfiffen. Und 83 Prozent der Berliner finden unseren Streik sinnvoll und richtig.“ Früher gab es dieses positive Denken noch nicht.
Es gab auch keinen Uni-Präsidenten, der leibhaftig in Saus und Frack auf das Podium kommt und in gemessenen Worten den Protest der Studierenden begrüßt. Und sich hinterher auch noch kritischen Fragen aussetzt. Ob er für Studiengebühren eintrete? Antwort: „Das Hochschulrahmengesetz verbietet Studiengebühren. Daher ist zum jetzigen Zeitpunkt eine Diskussion darüber nicht sinnvoll. Es stellt sich aber die Frage auch nach der Finanzierung.“ Warum er sich der Kündigung der Hochschulverträge durch den Berliner Senat nicht entschiedener entgegengestellt hätte? „Es wäre kein günstigeres Ergebnis verhandelt worden. Wir brauchen jetzt Planungssicherheit bis 2009.“ Die etwas ungezogene Frage nach seinem Gehalt will der korrekte Mann nicht kommentieren. Es ist ein bisschen wie Fernsehen: Man ist live dabei, fühlt sich gut unterhalten, erfährt aber mal wieder nichts. Der Mann lässt sich nicht festnageln.
Eigentlicher Höhepunkt der Veranstaltung ist ohnehin die Abstimmung über die Fortführung des Streiks. Der Campus in Adlershof und der Kinosaal sind als weitere Versammlungsorte live über Standleitung dazugeschaltet. Die häufiger mal zusammenbrechenenden Standleitungen verhelfen den Moderatoren zu etwas aufmerksamkeitssteigernder Dramaturgie: „Hallo Adlershof, könnt ihr mich hören?“
Deutlich zeigt sich, dass seit der letzten Abstimmung vor einer Woche die Minderheit der Streikmüden angewachsen ist. Schließlich macht der 5. Januar das Rennen. Bis dahin wird jetzt erst mal weitergestreikt. Kaum steht der neue Termin, setzt im Saal der große Aufbruch ein. Debbie vom RefRat rauft sich die Haare: „Ey Leute, bleibt hier, ihr habt doch gerade für die Fortsetzung des Streiks gestimmt.“
Für die noch Ausharrenden wird das schon angekündigte Protestgimmick bekannt gegeben: Dreihundert TU-Studenten sind vor dem Abgeordenetenhaus von der Polizei eingekesselt und brauchen Unterstützung. Wer hier mitzieht, darf mit viel Tatütata und der lustigen Berliner Polizei rund um den Gendarmenmarkt Fangen spielen.
Nicht so die armen Studenten der juristischen Fakultät. Sie schwimmen dem Strom der Streikenden ins Audimax entgegen, weil sie hier jetzt eine ganz wichtige Klausur schreiben müssen.