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Archiv-Artikel

Der Schwan hat die Macht

Prunksters (10) – die wöchentliche Kolumne aus den USA von Henning Kober. Heute: Der Feuervogel

Das Rätsel beginnt spät in der Nacht. Da sitzt vor unserer Türe neben dem Hinterrad eines geparkten Taxis ein Schwan. Sein Kleid verrät eine Menschenmutter. Hundert rosa Federn kleben auf einem Körper aus brauner Pappe. An der Flanke auch zwei schwarze. Die Brust trägt mit schwarzem Filzstift gemalt den Namen: „Firebird“. Wie aus einem Märchen gefallen sitzt er da, schön und verloren im leichten Tröpfelregen. Ich adoptiere ihn. Vielleicht freut sich auch unser neuer Hausgenosse Cubs, der kranke Kater der Brooklyn Brauerei.

Das neue Heim scheint dem Feuervogel zu gefallen. Er sitzt in meinem Zimmer auf dem ausgeschlachteten Howardflügel und wiegt den Kopf im warmen Luftstrahl der Heizung. Cubs lässt sich nicht sehen. Einen Tag später hängt unten neben dem Eingang ein Plakat: „RUNAWAY SWAN – Who has seen my beloved firebird?“ Darunter ein Foto, der Schwan zwischen Schaumwolken in einer Badewanne. „Contact me: runawayswan@hotmail.com“. Ist das ein Spiel, Kunst, ein verrückter Schatten in meinem Gehirn?

Ich schreibe eine E-Mail: „Lieber Unbekannter, dein Schwan ist bei mir. Willst du ihn zurück?“ Nichts passiert, tagelang. Schon fast hatte ich den Vogel vergessen, so unauffällig sitzt er da und schaut stillstolz aus dem Fenster. Dann kommt Antwort: „Der Schwan hat die Macht. Er verwandelt Steine in Seelen. Bitte gib ihn mir zurück. Heute Abend, 20 Uhr, North 7th. Street, Dead End“. Die Nachricht ist unterzeichnet mit Coco und Igor.

Ich gehe an den Ort, runter zum East River, den Schwan unterm Arm, in der Tasche den Gasrevolver meiner Mitbewohnerin Rekah. Hinter dem Schild „Dead End“ führt der Weg weiter, am Ende eine Trafostation, ein ausgetretener Weg an der Seite vorbei zu einer schmalen Kaimauer. Zwei Nachtangler sitzen rauchend da und weiter hinten ein halbes dutzend grinsende Gesichter. Alle haben sie einen Feuervogel. Coco und Igor will niemand sein. Keiner kennt den anderen. Shona schenkt Wein in Becher. Adam erzählt griechische Mythologie. Der Junge, der sich Strawberry Jay nennt, klebt seine Worte in schnellen Rap.

So sitzen wir da, in dieser vielleicht letzten windstillen Nacht vor dem ersten Blizzard. Ein Wasserflugzeug landet auf dem East River. Mike schickt seinen Vogel auf große Reise, ewig treibt er in die Ferne. Das Empire State Building leuchtet rot am Kopf, grün an der Spitze und scheint zum Greifen nah. Es bleibt ein schönes Rätsel.

prunksters@taz.de