: Urlaub im Kopf
Das Glück des Winters hat einen Namen: Grog. Mit hochprozentigem Rum und Zucker, bis der Löffel drin steht
Es wird Winter. Grau ist der Himmel und grau die Stimmung. Ein feiner Vorwand, um dem eigenen Alkoholismus ein neues Gesicht zu verpassen, hinunter mit dem banalen Bier und von der bitteren Pflicht zu des Trinkers edelster Kür: Komm her, süßer Schnaps, und schmiege dich wärmend in Magen und Seele, schenke mir Vergessen und schönes Wetter von innen – Besoffensein ist Urlaub im Kopf – die Grogsaison ist da!
Aldi an der Herrmann- Ecke Okerstraße. Ich stehe vor der Spritgalerie und sondiere das Sortiment: Es gibt zwei Sorten Rum – Übelverschnitt mit 40 Volt und Übelstverschnitt mit 54. Letzterer besticht zwar auf Anhieb durch seine logistische Ökonomie, doch kommt es schließlich auch auf den Kostenpunkt an. Auf den gelben Preistafeln an der Wand über den Flaschen findet sich neben dem Endpreis wie üblich auch der Betrag je Liter. Was für ein Schwachsinn: halb erbost, halb belustigt schüttle ich den Kopf. Das können die von mir aus mit Mehl machen! Mit Mehl können sie alles machen: Plätzchen backen, hineinspringen und wie ein Maulwurf darin herumwühlen, und die Tüten bis obenhin mit Kilopreisen, Halbwertszeiten und Gesundheitshinweisen auszeichnen – aber doch nicht mit Rum!
Wenn ich als Kunde eine Pulle stark drehender Beklopptsoße kaufen möchte, dann interessiert mich selbstredend der Preis pro hundert Umdrehungen und sonst gar nichts. Alle anderen Informationen gehen doch weit an den Bedürfnissen von mir als Kunden vorbei. Da frage ich mich als Kunde schon, ob die Verantwortlichen überhaupt noch in der Lage sind, der hohen Verantwortung, die sie für mich als Kunde tragen, auch nur halbwegs gerecht zu werden.
Die Flasche fühlt sich gut an in meiner Tasche. Meine Wahl ist auf den 54er gefallen – mangels verwertbarer Informationen habe ich einfach mein Herz entscheiden lassen: Ich denke an zukünftige Morgenstunden, an denen ich von der Arbeit nach Hause radle, verfroren und frustriert, und zu Hause wartet ein dampfender Becher Glücksgetränk – zwei Drittel Wasser, ein Drittel Rum und Zucker, bis der Löffel drin steckt.
Bei Rossmann erlebe ich eine freudige Überraschung: in der Heilmittel-Abteilung entdecke ich eine Schachtel mit der Aufschrift „Leberschutzdragees“. Davon immer eine davor und eine danach, und ich kann endlos so weitermachen. Saufen, saufen, saufen, und nicht an das Leben denken. Draußen Winter ohne Ende und in mir nichts als Sonnenschein, tirili. Für weitere Nebenwirkungen findet sich immer eine Lösung. Gehirnzellen? Von denen habe ich für meinen Geschmack sowieso zu viele. Meine Schlauheit nervt mich schon lange – immer weiß ich alles besser, sogar als ich selber: Tu dies, tu das, tu dies nicht, tu das nicht, sauf nicht so viel – damit ist jetzt Gott sei Dank bald Schluss. Sozialer Abstieg? Ja, wohin denn? Die Liebste läuft mir weg? Die Neue hält dafür zu mir – 54-prozentig. Und dann gibt es da ja noch den kleinen Puff in unserer Straße, stilecht und für die kurze Übergangszeit, bis man sich am Ende auch noch die Eier weggesoffen hat.
Schräg gegenüber und übrigens ebenfalls schräg gegenüber von Aldi auf der anderen Seite hat eine Kneipe neu eröffnet. Wo vorher das „Nashville“ drin war, wirbt nun das „Bullshit“ mit Billigangeboten um meinesgleichen. Oder heißt es der Bullshit? Aber nicht nur Alk steht auf der Karte – es gibt auch „Speisen“, darunter eine eigene Rubrik, „div. Salate“, die aus einem einzigen Posten, nämlich Kartoffelsalat, besteht. Damit der Magen wenigstens weiß, was er hinterher erbrechen soll. ULI HANNEMANN