Identitätsfindung in Ungarn

Am Sonntag stimmt Ungarn über die Einbürgerung von Landsleuten aus den Nachbarländern an. Rumänischer Regierungschef nennt das „Wahnsinn“

BERLIN taz ■ Viktor Orbán, der Chef der ungarischen Nationalkonservativen, würde gern als derjenige in die Geschichte eingehen, der seinem Land „historische Gerechtigkeit“ verschafft. Am Sonntag sieht er dafür seine große Chance kommen: Dann sollen die Ungarn in einem Referendum darüber abstimmen, ob ihre in den Nachbarländern lebenden Landsleute das Recht auf die ungarische Staatsbürgerschaft erhalten.

Es um geht dabei um fast drei Millionen Ungarn aus Gebieten in Rumänien, der Slowakei, Serbien, Kroatien und der Ukraine, die nach dem Ersten Weltkrieg von Ungarn abgetrennt worden waren.

„Wir stehen vor dem Augenblick der Entscheidung“, verkündete Orbán am Donnerstagabend vor 2.000 Anhängern in der südungarischen Provinzstadt Kaposvár. „Jetzt können wir darauf antworten, wer wir Ungarn sind, und uns gegenüber der Geschichte als würdig erweisen.“ Für Ungarns sozialistischen Regierungschef Ferenc Gyurcsány ist dies „gefährlicher Leichtsinn“ und „nationaler Radikalismus“, der nichts mit patriotischen Gefühlen zu tun habe. „Wir sollten unsere Zukunft durch die Augen unserer Enkel sehen, nicht durch die Augen unserer Großväter“, mahnt er.

Seit Wochen streiten Ungarns politische Lager – die regierende Koalition aus Sozialisten und Liberalen einerseits und der oppositionelle nationalkonservative „Bund Junger Demokraten“ (Fidesz) andererseits – heftig über die Volksabstimmung. Initiiert wurde sie vom rechtsnationalistischen „Weltverband der Ungarn“ (MVSZ), um das „Unrecht von Trianon wieder gutzumachen“. Nach dem Ersten Weltkrieg waren durch den Friedensvertrag von Trianon 1920 zwei Drittel des ungarischen Staatsgebietes und etwa ein Drittel der damaligen Bevölkerung an Rumänien, Jugoslawien und die Tschechoslowakei gefallen.

Heute sieht Ungarns gesamte politische Elite im Schutz der ungarischen Minderheiten im Ausland eine ihrer vorrangigen Aufgaben. Doch während die Sozialisten und Liberalen dafür eintreten, das Verbleiben der Auslandsungarn in ihren Heimatländern zu fördern und vor den hohen Kosten einer Masseneinwanderung warnen, setzt die Rechte auf Integration der drei Millionen Minderheitenungarn aus den Nachbarländern durch doppelte Staatsbürgerschaft. Vor allem für den Fidesz geht es dabei auch um eine Wählerklientel.

Umfragen zufolge will eine sehr knappe Mehrheit der Ungarn gegen das Einbürgerungsrecht für die Auslandsungarn stimmen. Sollten jedoch die Befürworter eine Mehrheit erhalten, so hätte das vorerst kaum Auswirkungen. Das ungarische Parlament wäre zwar verpflichtet, ein Einbürgerungsgesetz auszuarbeiten, eine Frist dafür ist aber nicht vorgesehen. Zudem ist das Parlament bei den Details des Gesetzes nicht an Vorgaben gebunden.

Ausgewirkt hat sich das Thema der doppelten Staatsbürgerschaft jedoch außenpolitisch bereits jetzt, vor allem auf das Verhältnis Ungarns zu Rumänien, wo 1,5 Millionen Ungarn leben. Die rumänische Regierung sieht in der Volksabstimmung einen Eingriff in die Souveränität Rumäniens und will beim Europarat und anderen europäischen Gremien Beschwerde einlegen. Es ist offen, ob ein ethnisch begründetes Einbürgerungsrecht mit EU-Gesetzen vereinbar ist. Rumäniens Regierungschef Adrian Nastase bezeichnete die Volksabstimmung als „Wahnsinn“. KENO VERSECK