piwik no script img

Archiv-Artikel

Kotze im Streichelzoo

Wenn der „Rixe“ blau vor Menschen ist, hat uns der Wahnsinn wieder fest in seinen klebrigen Fängen. Weihnachtsmarkt in Neukölln: Die Mädels gucken nach „Zeug“, die Jungs lassen sich auspeitschen, und der Glühwein ist billig wie nirgendwo sonst

VON ULI HANNEMANN

Der Richardplatz, „Rixe“ oder „Ritchie“, wie wir Neuköllner sagen, ist schwarz vor Menschen. Ein volles Jahr lang haben sie in stummer Verzweiflung hinter kalten Mauern vor sich hin gebrütet, und nur eine einzige Hoffnung erhielt in jener Schreckenszeit das Fünkchen Glauben an das Leben da draußen – jetzt endlich wird sie wahr: es ist Rixdorfer Weihnachtsmarkt beziehungsweise „Rixe“ oder „Ritchie“, wie der Neuköllner sagt – auf keinen Fall zu verwechseln mit dem gleichnamigen Platz.

Urgemütlich ist dieser Markt. Nach einem ersten, rasch gestürzten Jagertee boxen wir uns besinnlich grölend durch die dichte Menge. Es gilt, die besten und billigsten Glühweinstände zu finden – wer mehr zahlt als einen Euro, ist selber schuld. Wenige weitgereiste Fahrensleute, die es bis nach Mitte oder „Mittelerde“ wie der Neuköllner sagt, verschlagen hat, berichten den angenehm schaudernden Zuhörern von sagenhaften Glühweinpreisen. Nur einem kleinen Häuflein ist es gelungen, zu fliehen, der Rest sitzt noch heute wehklagend im Schuldturm am Alexanderplatz.

Alle Stände auf dem Rixdorfer Weihnachtsmarkt werden von Schulen, Verbänden und Vereinen betrieben, selbst die tschechische Partnerstadt Usti nad Dingenskirchen ist vertreten, während Nashville/Tennessee in diesem Jahr erneut zu Hause geblieben ist – es herrscht noch immer Eiszeit zwischen Neukölln und Amerika. Leider gibt es auch zahlreiche überflüssige Buden, an denen Selbstgebasteltes, „Zeug“ wie der Neuköllner sagt, feilgeboten wird. Stets aufs Neue muss man sich deshalb zum nächsten Glühwein außen herum durch einen gefährlichen Strom von Müttern kämpfen, die in Schlangenlinien Kinderwägen wie Rammböcke drohend über das Pflaster wuchten. Viel bequemer wäre es, könnte man sich einfach nur von Glühweinstand zu Glühweinstand treiben lassen.

Einige Stände bieten immerhin Glühwein und Zeug an, das man zum Genuss des christlichen Getränks betrachten kann: soll ich Mutter dieses Jahr ein schief zusammengenageltes Windlicht schenken oder ein riesiges Sparschwein aus Pappmaché? Nehme ich das Schwein mit den blauen Augen oder das mit den braunen? Bei dem Schwein mit den braunen Augen ist das Ringelschwänzchen schöner, bei dem anderen die Augen. Marcel nimmt das Braunauge. Alles ist egal – längst schon hält uns der weihnachtliche Wahnsinn fest in seinen klebrigen Fängen: wir trinken Glühwein mit Schuss und telefonieren fortwährend per Handy nach den verlorenen Mädels. Die müssen immerzu Zeug angucken – am Glühweinstand bei den Maronen trifft man sich wieder oder auch nicht.

Schüler schwärmen durch die Menge und bieten vermutlich essbares Zeug in durchsichtigen Plastiktüten an, Echsenhäuschen, wenn ich sie recht verstanden habe. Der Erlös ist für eine Klassenfahrt. Ein guter Zweck, mein liebes Kind – wohin soll’s denn gehen? Aha, nach Paris, ins Disneyland. Feine Sache. Ich war ja mit 16 selber mal auf Klassenfahrt, in Nürnberg. Von Rosenheim aus war man da auch nicht so quälend lange unterwegs. Was kostet denn dein Echsenhäuschen? Nur drei Euro? Judith kauft eines und ärgert sich – sie hat ja noch nicht mal eine Schildkröte zu Hause. Ich spendiere ihr einen Jagertee. Danach grinst sie endlich genauso enthemmt wie alle anderen hier. Süßer Taumel, besinnungslose Freude.

Von Glück und Glühwein trunkene Jugendliche umarmen einander, einer übergibt sich in den Streichelzoo. Auf der großen Bühne Ecke Richardstraße tanzt ein Mann im Pferdekostüm und wird dabei von einem blonden Bikini-Flittchen ausgepeitscht. Irgendwie muss sie sich ja warm halten. Ein Paar, das den ungefestigten Kinderpsychen ringsum irreversible Schäden zufügt – den Therapeuten bezahlt dann die reiche Tante Ersatzkasse.

Nach dem dritten Jagertee haben wir das untrügliche Gefühl, endlich Gott zu schauen: Gott ist groß, Gott ist in uns – das lange Warten hat sich wieder mal gelohnt. Das Leben ist schön. Der Rixe ist blau vor Menschen. Fast möchten wir uns auf dem Höhepunkt in den Schnee legen, zum Sterben oder „Abkacken“, wie der Neuköllner sagt, wohl nicht zuletzt in Anlehnung an den braunen, von Hunden selbst gebastelten Schneeersatz, der hier optisch dominiert. Auf dem Heimweg liegt ein breit getretenes Echsenhäuschen. Hoffentlich war da keiner drin.