: Die Richter zeigen Gesicht
VON JURI DURKOT
Wie unabhängig ist das Oberste Gericht in seinen Entscheidungen? Wild wurde darüber in den letzten Tagen in der Ukraine spekuliert und vor allem gestern, nachdem sich die Richter morgens zur abschließenden Beratung zurückgezogen hatten. Fast eine Woche hatten sie verhandelt, um darüber urteilen zu können, ob die Präsidentenwahl vom 21. November gültig ist oder nicht. Die ganze Zeit über wurden die Gerüchte nie leiser, es gebe einen extrem starken Druck auf die Richter. Die Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko hatte am vergangenen Sonntag sogar von Bestechungsangeboten und Erpressung aus der Umgebung von Präsident Kutschma gesprochen. Auch die konkreten Summen wurden genannt – jedem Richter sollen angeblich bis zu 5 Millionen Dollar angeboten worden sein.
Vorwürfe solcher Art sind nicht verwunderlich. In einem Land, wo Einschüchterung und Erpressung bisher nicht selten als Druckmittel gegen die politische Konkurrenz angewandt wurden, steht die Unabhängigkeit der Gerichte bis heute eher nur auf dem Papier. Im Falle des Obersten Gerichts heißt das etwa, die Richter werden vom Parlament bestimmt und sind bis zu ihrem 65. Lebensjahr, wenn sie pensioniert werden, nicht mehr absetzbar. Doch oft herrscht in der Ukraine nicht das Gesetz, sondern brutaler Druck und Korruption. Die Willkür der Gerichte bekommen insbesondere die Oppositionsmedien zu spüren, die sich immer wieder gegen zahlreiche Klagen wehren müssen. So wurde die Zeitung Lwiwska Gazeta vor kurzem zur Zahlung eines Bußgeldes verurteilt, weil sie Artikel aus den polnischen Zeitungen abgedruckt hat. „Das ukrainische Gesetz schreibt aber klar vor, dass die Redaktion keine Verantwortung für die im abgedruckten Artikel geäußerten Meinungen trägt!“, ärgert sich heute noch Oleg Basar, der Chefredakteur.
Man kann allerdings auch vor Gericht Recht bekommen – gute Anwälte sind in der Ukraine heute besonders gefragt. Wenn es um wichtige politische Weichenstellungen geht, ist es jedoch relativ selten. Trotzdem war bisher das Anwälteteam des Oppositionsbündnisses Nascha Ukraina mit dem Chefjuristen Mikola Katerintschuk an der Spitze seinen Kontrahenten aus dem Janukowitsch-Lager haushoch überlegen, so die ukrainische Wochenzeitung Zerkalo Nedeli.
Und die Opposition konnte auch Hoffnung haben auf den Zivilsenat, in dem 21 der insgesamt 85 Richter des Obersten Gerichts sitzen und der die Klage der Opposition über die massiven Wahlfälschungen zu entscheiden hatte. Gerade er und sein 49-jähriger Vorsitzender Anatoli Jarema haben bisher einen hohen Grad an Objektivität bewiesen. Den aus der westukrainischen Region Lemberg stammenden Jarema, der gleichzeitig Vizepräsident des Obersten Gerichts ist, bezeichnen viele Beobachter und Fachleute als einen der besten ukrainischen Juristen im Bereich des Zivilrechts. Seine juristische Ausbildung hat er an der Kiewer Universität bekommen, mit 35 Jahren wurde er 1990 auf der Welle der Perestroika zum Richter des Obersten Gerichts gewählt und im Jahr 2000 im Amt bestätigt, diesmal – im Einklang mit der Verfassung und dem neuen Richtergesetz – unbefristet.
Es war der Zivilsenat, der bereits nach dem ersten Wahlgang drei Klagen von Nascha Ukraina entsprochen hat. Das Oberste Gericht hob das Urteil eines Berufungsgerichts in Tscherkassi, das die Wahlen in zwei Wahlkreisen der Zentralukraine für ungültig erklärt hatte, auf. Auch die Entscheidung der Zentralen Wahlkommission über die Ungültigkeit der Wahlen in einem weiteren Wahlkreis derselben Region – in Kirowohrad – wurde aufgehoben. In allen drei Wahlkreisen hatte der Oppositionskandidat Wiktor Juschtschenko gewonnen. Freilich ging es damals nicht um alles oder nichts – die rund 130.000 Wählerstimmen, die Juschtschenko dadurch dazugewonnen hatte, bedeuteten nur eine kleine Korrektur des Endergebnisses. Trotzdem werteten die Beobachter dieses Urteil als eine wichtige Weichenstellung – das Gericht hatte gezeigt, dass es kaum möglich sein wird, durch manipulierte Amts- und Landgerichte die Wahlergebnisse in den Wahlkreisen zu annullieren, wo die Opposition gewonnen hatte.
Das Gericht war in den letzten Tagen nicht zu beneiden. Jarema und seine Kollegen waren sich bewusst, dass sie mit ihrem Spruch Weichen stellen – womöglich nicht nur für die nächsten Monate, sondern auch für die Zukunft des Landes. Eine Verantwortung, der sie sich mit ihrem Urteil gestellt haben.