: Kredite vom Dorfplatz
ARMUT Ein Bildband porträtiert die Kreditnehmerinnen der Grameen-Bank
VON ANNETTE JENSEN
Hochglanzfotos über Armut sind in der Regel peinlich: Wo das Elend von Menschen ästhetisiert wird, entsteht ein schales Gefühl. Ganz anders ist das in dem beeindruckenden Bildband „Die Kraft der Würde“. Hier werden selbstbewusste Individuen vorgestellt, die auf Augenhöhe in die Kamera blicken. Mit Hilfe von Krediten in Höhe von lächerlichen Beträgen von 20 oder 30 Euro ist es ihnen gelungen, für sich und ihre Familien in Bangladesch eine Existenz aufzubauen. Zwar ist ihr Lebensstandard nach wie vor äußerst bescheiden. Doch diese Menschen sind weder ausgebeutet noch auf Almosen angewiesen und müssen sich auch keinen paternalistischen „Fördern und fordern“-Programmen unterwerfen. Sie sind mutige Kleinunternehmer mit Zukunftsplänen.
Die Fotos zeigen sie in ihrer alltäglichen Umgebung in Momenten des Innehaltens. Sie stehen vor ihrem Laden oder neben dem zerschlissenen Friseurstuhl, zeigen dem Betrachter ihr Fischernetz oder sitzen vorm Computer. Dem Fotografen Roger Richter ist es gelungen, durch respektvollen Abstand und den Verzicht auf inszenierte Aktivitäten eine große Intensität der Porträts zu erreichen.
Der Text von Peter Spiegel erzählt die Erfahrungen dieser Menschen und die Geschichte der Grameen-Bank, die die Mikrokredite vergibt. Gegründet wurde sie von Muhammad Yunus, Wirtschaftsprofessor und später Nobelpreisträger. Bei Recherchen in einem Dorf fand er heraus, dass eine Arbeiterin für das Material zur Herstellung von Bambushockern so viel zahlen musste, dass ihr Lohn niemals ausreichen würde, um die Rohstoffe selbst vorzufinanzieren. Sie war auf Geldverleiher und Zwischenhändler angewiesen – und die kassierten auf das Jahr gerechnet Zinsen in Höhe von bis zu 14.000 Prozent.
Doch während Wirtschaftsverbände bei jeder Steuererhöhung um wenige Prozentpunkte den Zusammenbruch ganzer Branchen prognostizieren, interessierte sich für diesen gigantischen Wirtschaftsskandal niemand, stellte Yunus fest und gründete eine Bank für Mikrokredite.
Die stellt in jeder Beziehung einen Kontrast dar zu dem, was man sonst mit einer Bank assoziiert. Bei Grameen bekommen nur solche Menschen einen ersten Kredit, die keinerlei Sicherheiten vorweisen können. Anders als es Wirtschaftslehrbücher vermuten lassen, liegt die Kreditausfallquote mit zwei Prozent so niedrig wie sonst nirgends. Die Darlehensverträge werden mitten auf dem Dorfplatz abgeschlossen. In der Regel kooperieren fünf KreditnehmerInnen, die sich gegenseitig kontrollieren und beraten.
Heute sind etwa 95 Prozent der Vertragspartner der Grameen-Bank Frauen. Dahinter steckt kein feministisches Programm, sondern die langjährige Erfahrung der Banker, dass ihre weibliche Kundschaft das Geld fast vollständig investiert und nicht für den Konsum ausgibt. Obwohl fast keine der acht Millionen Grameen-Kreditnehmerinnen selbst lesen und schreiben kann, schicken alle ihre Kinder zur Schule. Auch Hilfsorganisationen beäugten lange Zeit das Projekt kritisch. Immer wieder wurde Kritik laut am jährliche Zinssatz von 20 Prozent, hinter dem man eine Bereicherung des Bankgründers vermutete. Doch tatsächlich ist die Grameen-Bank eine Genossenschaft, in der die Armen selbst über die Kreditbedingungen und mögliche Überschüsse mitbestimmen.
Dass sich Arme ganz ohne Almosen, ja sogar ohne vom Westen ausgearbeitete Bildungsprogramme selbst helfen können, wenn sie nur durch einen fairen Kredit die Früchte ihrer Arbeit behalten können, ist eine selten eingenommene Perspektive. Dabei liegt hierin eines der größten Potenziale zur weltweiten Armutsbekämpfung. Die Yunus-Bank steckt nicht in der Krise. Schließlich hat sie immer nur das getan, was die originäre Aufgabe einer Bank ist: Menschen, die investieren wollen, mit Geld zu versorgen.
■ Roger Richter, Peter Spiegel: „Die Kraft der Würde. The Grameen Family“. J. Kamphausen Verlag, Bielefeld 2009, 39,80 Euro, 220 Seiten