: „Man betreibt eine radikale Auslese“
Trotz Bildungsstandards haben Arbeiterkinder immer weniger Chancen, sagt Steffi Schröder vom Asta Münster
taz: Tausende Studierende demonstrieren gegen Hochschulkürzungen – und ihr vom Asta Münster gebt Pressemitteilungen über die Tatenlosigkeit der Kultusminister nach Pisa heraus. Lasst ihr die Kommilitonen im Stich?
Steffi Schröder: Nein, gar nicht. Wir waren mit auf der Straße. Aber Pisa ist gerade zwei Jahre alt geworden. Wir wollten wissen, was eigentlich seitdem geschehen ist.
Und, was hat sich verändert?
Ganz wenig. Die Kultusministerkonferenz hat es gerade mal geschafft, nationale Bildungsstandards zu beschließen. Die Schulstrukturen aber sind weiter die alten. Die deutsche Schule entlässt ungewöhnlich viele funktionale Analphabeten – aber es gibt bisher keine strukturellen Antworten darauf.
Warum ist das so?
Man hat das Gefühl, unsere Bildungs- und Kultusminister sind selber funktionale Analphabeten. Sie lesen die Pisa-Studie, aber sie kapieren nicht, was drin steht: Das auffälligste Merkmal der Schule sind ihre hierarchisch gegliederten Sekundarstufen. Nirgendwo sonst auf der Welt werden die Kinder nach der vierten Klasse so scharf in Leistungsklassen getrennt.
Was geschieht, wenn man Schüler so aufteilt?
Man betreibt dadurch eine radikale Auslese. Unser Schulsystem wirft die vermeintlich schlechten Schüler raus und schiebt sie in niedrigere Schulformen ab. Man kann das Selektion nennen. Die Idee ist, homogene Lernräume zu schaffen. Man erreicht damit jedoch nur, dass für die meisten Kinder aus bildungsfernen Häusern die Tore der Uni zu bleiben.
Wie viel Arbeiterkinder gibt es denn noch an der Uni?
Nur 12 Prozent, aber wir arbeiten gar nicht mit dem Begriff. Wir nennen uns „Arbeitsgruppe für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende“.
Was soll das bedeuten?
Das knüpft an den französischen Soziologen Pierre Bourdieu an. Er sagt, dass die Kinder aus privilegierten Schichten ein kulturelles Kapital mitbekommen, das Kindern bildungsferner Schichten vorenthalten bleibt . Ein feiner Unterschied – der dazu führt, dass bildungsferne Kinder im Wettbewerb um Ausbildung Nachteile haben.
Interessant, die Theorie, aber nicht mehr ganz frisch, oder?
Leider hat sie an Aktualität nichts verloren. Viele Studien zeigen, dass es nur wenige finanziell und kulturell benachteiligte Kinder an die Unis schaffen. Schuld daran ist das Schulsystem, weil es die kulturellen Nachteile noch verstärkt. Die deutsche Schule macht aus feinen Unterschieden große. Und das kann’s nicht sein.
Warum kümmert Studis diese Ungerechtigkeit nicht? Sonst fordern sie doch auch das Recht auf Bildung für alle.
Otto-Normalstudierende sind sehr mit sich selbst beschäftigt. Das kann man verstehen – wo es doch gerade um ihren Status quo und um Uni-Gebühren geht. Wir haben da einen anderen Zugang.
Findet ihr Studiengebühren etwa okay?
Nein, selbstverständlich nicht. Studiengebühren und auch Kontenmodelle wie das in NRW perfektionieren die Ungerechtigkeit. Die der Hochschule vorgelagerten Bildungseinrichtungen wie Kitas und Schulen sind bereits extrem selektiv und elitär. Jetzt geht es auch in den Hochschulen los, die bisher noch eher egalitär waren. Die letzten Arbeiterkinder werden aus den Unis herausgekämmt.
Ein harter Vorwurf.
Kommen Sie mal zu uns in die Asta-Sozialberatung. Das Land verschickt gerade die ersten Gebührenbescheide für überzogene Studienkonten. Wir beraten mit sechs Leuten – und die Schlange der betroffenen Studis wird immer länger.
Langzeitstudenten.
Ja, viele von denen sind finanziell und kulturell Benachteiligte. Die müssen öfter jobben, um studieren zu können. Dadurch verlängert sich das Studium. Dann bricht das Bafög weg – und es muss noch mehr gejobbt werden. Ein Teufelskreis. Man ist ruckzuck über die 1,5fache Studienzeit hinaus – und zahlt. Viele bildungsferne Studienbewerber schreckt das von vornherein ab.
Wie viele Studenten scheitern?
17 Prozent der Studenten geben an, wegen finanzieller Engpässe das Studium abzubrechen. Das müssen nicht zwangsläufig die sozial Schwächeren sein. Aber deren Lage wird auf jeden Fall jetzt verschlechtert. Die Uni wird elitärer.
Warum reden dann alle von Chancengerechtigkeit?
Man muss aufdecken, dass das eine Lüge. Die Wahrheit ist, dass immer mehr Auslese betrieben wird. Das ist bei der sozialen Schieflage, die wir ohnehin haben, nicht anders als katastrophal zu nennen.
Was fordern Sie?
Es reicht nicht, Bildungsstandards zu beschließen und sich dann auf die Schulter zu klopfen. Andere Lernumfelder müssen her, das dreigliedrige Schulsystem muss weg – selbst wenn das nicht von heute auf morgen geht. Das Wichtigste ist vielleicht, endlich unsere Unterlassungssünde zu erkennen: dass wir die Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft nicht thematisieren. Wir müssen das offenlegen.
INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER