: Stolz und Scham
Liebe dein Vaterland wie dich selbst, fordern die Christdemokraten: Es ist schon tausend Jahre alt. Ein Essay über die vielen Fallen, in die der Diskurs um Nationalstolz, Vergangenheit und Zukunft tappt
VON CHRISTIAN SEMLER
Liebe ist wunderbar, verordnete Liebe ist schrecklich. Warum soll ich meine Eltern lieben? Weil mir nichts anderes übrig bleibt? Was den väterlichen Part anbelangt, war schon Dr. Freud entschieden anderer Meinung. Wenn es hingegen nach Frau Dr. Merkel ginge, sollen wir jetzt außerdem noch unser Vaterland lieben. Oder zumindest ein liebevolles Verhältnis zu ihm entwickeln, wie der Generalsekretär von Dr. Merkel, Laurenz Meyer, präzisierte. Eigentlich geht es aber nicht darum, sich zur Vaterlandsliebe hochzuarbeiten. Sie ist schon in uns.Wir müssen nur die Fesseln lösen, die uns daran hinderten, sie auszuleben. Insofern beugen wir uns nicht unters Joch des Sollens, sondern folgen dem Gesetz der Natur.
Liebe ist zudem eine christliche Kardinaltugend. Was spräche dagegen, sie in Analogie zur Familie auf die nächstgrößeren Familienverbände bis hin zum Vaterland zu übertragen? Wäre da nicht die Last der Geschichte, die das Vaterland mit sich herumschleppt, wären da nicht die „düsteren Kapitel“, deren düsterstes Dr. Merkel zufolge der Holocaust darstellt: „Zur ständigen Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst gehört auch die Anerkennung dessen, was unaussöhnlich ist, die Anerkennung der Singularität des Holocaust.“
Diese therapeutische Anweisung an die Deutschen stößt, ähnlich den Begleitzetteln vieler Medikamente, auf Verständnisschwierigkeiten. Inwieweit wir uns „mit uns selbst“, sprich mit dem Vaterland, sprich mit seiner Geschichte aussöhnen, indem wir das „Unaussöhnliche“ in ihr anerkennen, wird nicht ganz einsichtig. Zwar ist von der „Singularität“ des Massenmordes an den Juden die Rede, um möglichen geschichtlichen Relativierungen vorzubeugen, aber genau diese „Einordnung“ ins Hell-Dunkel der deutschen Geschichte ist der Sinn eines Unternehmens, das doch noch die verschüttete Vaterlandsliebe in uns wecken soll.
Hier ist die christdemokratische Rede von der 1000-jährigen Geschichte instruktiv, die nicht auf die zwölf Jahre der Naziherrschaft reduziert werden dürfe. Die Zahl Tausend hat es in sich. Die Vorstellung des 1000-jährigen Reiches, ursprünglich ein Produkt christlich-chiliastischer Welterklärung, geisterte durch das nationalistische deutsche Milieu, um während der Naziherrschaft zum Synonym des „Dritten Reiches“ zu werden. Hartnäckig hält sich die mystische Zahl im national-konservativen Diskurs. Auf 1.000 Jahre deutscher Geschichte können wir demnach seit der Thronbesteigung Heinrichs I. zählen. Zu den Liebhabern der 1.000 Jahre zählt auch der CDU-Abgeordnete Dr. Lammert. In der Hohmann-Debatte des deutschen Bundestages bezeichnete er es als „intellektuell nicht redlich und politisch unverantwortlich, die tausendjährige Geschichte auf wenige Jahre reduzieren zu wollen“.
Historisch ist das barer Unsinn. Ein kaiserlicher Ministerialer im Mittelalter hätte die Augenbrauen hochgezogen, wäre er als Deutscher angeredet worden. Deutsch (tiudisk) war die Bezeichnung für die Volkssprache, nichts weiter. Rückprojektionen des Nationalen in entfernte Geschichtsepochen waren schon eine Spezialität der nationalistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, aber gerade die ist ja anschlussfähig.
Lammert hält den Reduzierern entgegen: „Deutschland ist ein Land mit einer schwierigen Geschichte. Aber es gibt nur wenige Länder auf der Welt, die sich den düsteren Kapiteln ihrer Geschichte ähnlich wie wir gestellt haben und dafür bis heute die Verantwortung übernehmen.“ Ob die „Verantwortung bis heute“ so ganz freiwillig übernommen wurde? Das letzte Kapitel der „Verantwortungsübernahme“, die Entschädigung der Zwangsarbeiter, erzählt eine ganz andere, weniger edle Geschichte. Dass „wir“ uns der Nazi-Geschichte gestellt haben, ist das Resultat jahrzehntelanger, harter Auseinandersetzungen. Ironischerweise sind es die großen Bremser dieser Aufklärungsarbeit, die Nationalkonservativen, die jetzt „das Vaterland“ mit der Aureole „Weltmeister der Vergangenheitsbewältigung“ schmücken. So wird aus der Scham doch noch Stolz.
Beim Stolz gilt es allerdings noch, Vorsicht walten zu lassen. Er liegt zu nah an Hoffart und Überheblichkeit, die wir – es sind schließlich kardinale Laster – auf alle Fälle vermeiden wollen. Denn: „Sich über andere zu erhöhen, ist meist ein Zeichen von Minderwertigkeitskomplexen“ (Angela Merkel). Und die haben wir nun wirklich nicht nötig.
Aber hatte die Vaterlandsliebe in der deutschen Geschichte nicht auch ein demokratisches, der Gerechtigkeit verpflichtetes Gesicht, hatten sich nicht Lessing und Kant als Weltbürger und deutsche Patrioten gefühlt, eine Tradition, an die man bedenkenlos anschließen könne?
Gerade am Beispiel Kants ließe sich zeigen, dass er patria gegen pater setzt. Patria ist nicht eine vorgegebene, durch Verwandtschaftsbande gestiftete Gemeinschaft, sondern die Bürgergesellschaft, die sich erst im Prozess der Aufklärung bildet. Das Vaterland ist Gegenbegriff zum Despotismus. Erst müssen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit im Vaterland durchgesetzt werden, denn die Luft im Weltbürgerreich ist zu dünn, um unmittelbar zum Weltbürgertum, dem eigentlichen Ziel, übergehen zu können. Der Patriotismus Kants ist also an ein universalistisches Projekt gebunden, er ist auf die Zukunft vernünftig handelnder, autonomer Menschen hin entworfen. Dies im Unterschied zum Patriotismus des 19. Jahrhunderts, dessen wichtigstes Motiv nicht der Entwurf einer besseren Zukunft, sondern die Verteidigung vorgeblicher deutscher Eigenart gegen die napoleonische Fremdherrschaft war. Nicht Hoffnung, sondern Hass hatte er als Antriebskraft. Hier liegt die Quelle des völkischen Nationalismus, der den Patriotismus der Aufklärung auslöschte.
Wäre aber nicht gerade die Orientierung auf die Zukunft wiederaufnahmefähig? So möchte es Jürgen Rüttgers (CDU) sehen, der klagt: „Wir Deutschen blicken bei diesen Fragen immer viel zu sehr nach hinten und verkrampfen … aber diese Verkrampfung darf uns nicht daran hindern, Patriotismus nach vorn zu denken.“ Auch Merkel ist für Zukunftsorientierung. „Das hat etwas mit gemeinsamen Werten, aber auch mit wirtschaftlicher Innovationskraft zu tun.“
Scheinbar kann sich diese patriotische Zukunftsmusik auf Unterstützung aus einer gänzlich unvermuteten Ecke berufen, auf Richard Rorty, einen der großen Denker der amerikanischen demokratischen Linken. Apodiktisch formuliert er zu Beginn seines Essays „Stolz auf unser Land“ (1998): Nationalstolz sei für ein Land dasselbe wie Selbstachtung für den Einzelnen: eine notwendige Bedingung der Selbstvervollkommnung. Intensive Gefühle der Scham und glühender Stolz seien notwendig, um politisches Denken phantasievoll und fruchtbar zu machen. Und er schlussfolgert: „Wer eine Nation dazu bringen möchte, sich anzustrengen, muss ihr vorhalten, worauf sie stolz sein kann und wessen sie sich schämen sollte.“ Ist es nicht genau dies, was Angela Merkel uns beibiegen möchte?
Das Problem von Rortys These liegt in der Bestimmung der Selbstachtung als einer vorgegebenen, aristokratischen Geisteshaltung und in der Parallelisierung von Selbstachtung und Nationalstolz. Selbstachtung setzt Anerkennung voraus. Die erwerben wir in der Gesellschaft Gleicher, in Wettbewerb und Kooperation. Deshalb ist die Selbstachtung der Individuen Bestandteil des Prozesses, in dem die Bürgergesellschaft sich bildet. Der Zielpunkt ist nicht die Nation, sondern die Demokratie. Weil das so ist, setzt Rorty den amerikanischen Nationalstolz in eins mit der Idee universaler Demokratisierung und sozialer Gerechtigkeit. Dadurch löst sich sein Nationalstolz begrifflich auf.
Angela Merkels zukunftsorientierter Patriotismus hat mit der Zukunftsvision, an die Rorty anknüpfen will, nichts zu tun. Sie sagt es selbst. Nach einer Verbeugung vor den gemeinsamen Werten (worin bestünden diese im Unterschied zu denen anderer demokratisch verfasster Nationen?) kommt das große ABER: die wirtschaftliche Innovationskraft. Für den erfolgreichen Standortwettbewerb der deutschen Industrie müssen die Unternehmen entlastet, die Arbeitskraft flexibilisiert und die Sozialausgaben gekürzt werden. Dies gebietet die patriotische Pflicht, die aus der Vaterlandsliebe erwächst, die wiederum so natürlich ist wie die Liebe überhaupt.
Offensichtlich sind auch der Bundeskanzler und sein Wirtschaftsminister vom Pflichtenkatalog des Patriotismus angetan. Beide verwenden den Begriff als nützliches Instrument zur Durchsetzung der Agenda 2010. Sie schwimmen auf der Modeströmung, die es im Augenblick auf schwarz-rot-goldene Accessoires und „Ich liebe Deutschland“-Songs abgesehen hat, während für die Nationalkonservativen der Patriotismus Herzensangelegenheit ist.
Die Linken sollten nicht auf diesen Band-Waggon springen. Sie sollten ihr ohnehin schwach entwickeltes Liebespotenzial eher der Idee des Gemeinwohls zuwenden. Auch diese Idee wurde oft genug missbraucht, verfügt aber geschichtlich über ein Potenzial von Vorstellungen von Demokratie und Gerechtigkeit, das zu entfalten sich lohnt.