: Christians Welt ist rund
Der Junge ist 19 und gilt als geistig behindert. Mit den Eltern war er mit seinem Segelboot auf Weltreise. Nun planen die Eltern, ganz abzuhauen
AUS CASTROP-RAUXEL BERND SCHÄFER
Christian blickt rüber zu seiner Mutter und wartet auf das Zeichen. „Das sind einige der vielen Menschen, bei denen wir Herzlichkeit und Gastfreundschaft erfahren durften“, spricht sie in den halbdunklen Raum hinein. Die Anwesenden blicken gebannt in Richtung Leinwand. Brigitte hebt die Hand, Georg schiebt ein Dia hinein und Christian zieht die Regler des Mischpultes hoch. Aus den Boxen singt Rio Reiser: „Ich habe viele Väter. Ich habe viele Mütter... Meine Väter sind schwarz und meine Mütter sind gelb“.
Christian hat zwei Mütter. Seine erste, die biologische, kennt er nicht. Das Krankenhaus verließ sie am Tag seiner Geburt, sie ging zurück auf die Straße. Das Kleinkind blieb zurück. Musste bleiben. Fünf Wochen lang kämpfte es ums Überleben. Unterernährt und vom starken Alkoholkonsum der Mutter gekennzeichnet, lag es im Sauerstoffzelt. Danach kam der Junge zu seinen Adoptiveltern.
Alkoholembryopathie, oft auch Fetales Alkoholsyndrom (FAS) genannt, diagnostizierten die Ärzte. Eine eher unbekannte Krankheit. Sie äußert sich in Wachstumsstörungen, körperlichen Fehlbildungen sowie in Lern- und Verhaltensstörungen. Und sie ist vermeidbar. Seit langem fordern Initiativen deshalb Warnhinweise auch auf den Waren des legalen Drogenkonsums. Schätzungen gehen von jährlich 2.000 bis 2.500 Kindern aus, die in Deutschland mit dieser Krankheit geboren werden. Und die Zahl der nicht eindeutigen Fälle wird auf 10.000 bis 15.000 pro Jahr geschätzt. Auch hier ist der Übergang fließend, von dem, was als gesund gilt und dem, was als krank definiert wird.
„Ich brauche halt mehr Zeit als andere, um etwas hinzukriegen“, so beschreibt sich Christian. Zum Nachteil wird das erst, wenn Anderssein ausgegrenzt wird – und das ist eine Frage des gesellschaftlichen Diskurses: In der deutschen Geschichte begann die Ausgrenzung im 16. Jahrhundert mit dem Bettelverbot in Kirchenordnungen, im 17. Jahrhundert folgte die Internierung in Armen- und Arbeitshäuser, im 19. Jahrhundert wurden separierende Anstalten gegründet. Der Prozess der Ausgrenzung und Einschließung wurde im 20. Jahrhundert durch die Euthanasiepolitik des Dritten Reiches mit der Vernichtung von „irrem“ Leben ergänzt.
Menschen, die sich an dieser Ausgrenzung beteiligen, sind nach Christian Leute, die „eckig“ denken: Sie sind intolerant, straight, schauen nicht nach rechts oder links und selektieren Anderssein als Minderwertigkeit aus. Sie rempeln ihn an, diffamieren oder schneiden ihn.
Auf der Weltreise lernte er Andere kennen. Menschen, die nach Christians Terminologie rund denken. Die in ihren Sprachen nicht zwischen Gast und Fremden unterscheiden. Die in Kulturen leben, in denen nicht zuerst nach der Funktionalität eines Menschen gefragt wird, bevor er eingeladen wird. Mit ihnen lebte er teilweise wochenlang zusammen. Oft auch unabhängig von seinen Eltern. Und tauschte sich mit ihnen aus. In Englisch, mit ein paar Brocken Spanisch und manchmal mit Händen und Füßen, doch immer solange bis man sich verstand. Er erfuhr von ihnen und ihren Lebensbedingungen und erzählte von sich. Von seiner Situation, von seinen Motiven, seinen Eindrücken und den Hintergründen der Weltreise.
Sieben Jahre dauerte die Vorbereitung, der Bau des Schiffes. Christian erinnert sich an die Randbedingungen. Als Georg auf einem Brachgelände in Recklinghausen beginnt, tonnenweise rostigen Stahl zusammen zu tragen, mit dem Vorsatz daraus ein Segelschiff bauen zu wollen, hält ihn ein großer Teil von Freunden und Bekannten für verrückt. „Sind deine Eltern eigentlich doof?“, wird der Junge gefragt. „Das wird!“, entgegnet der. Und selbst als das Schiff zum ersten Mal zu Wasser gelassen wird, ist die Gemeinde der Zweifler noch groß. Christian lässt sich jedoch nicht irritieren. Der Glaube an das Gelingen des Projektes „einmal rum zu kommen“ ist unverrückbar.
Hierfür erträgt er Fieber, Kopfschmerzen und Übelkeit auf See. Nur einmal scheint der Traum ernsthaft in Frage gestellt. Während der Pazifiküberquerung und unter stürmischen Bedingungen gerät Brigitte in die Krise und beschließt, dass die „Lisbeth“ im nächsten Hafen verkauft wird. Das gehört zur Absprache unter den Dreien. Kann einer aus welchen Bedingungen auch immer nicht weiter, wird die Reise abgebrochen und das Schiff aufgegeben. Christian interveniert. So wie Kinder es wahrscheinlich überall auf der Welt getan hätten, – er redet auf die Mutter ein und weint.
Angekommen in der Südsee, gelandet auf einer der traumhaften Inseln, unter freundlichen Menschen, im Schatten von Palmen an einem weißen Strand sieht die Welt dann wieder anders aus. Zusammen beschließen sie, die Reise fortzusetzen. Australien gehört zu den nächsten Etappen. Mit einem Landrover durchqueren sie den Kontinent. Für Christian ein Tiefpunkt, er bemerkt die Umweltverschmutzung, verursacht durch eine extensive industrielle Nutzung von Ölressourcen, die Unterdrückung der Aborigines, apartheidsähnliche Zustände, weiße Ignoranz.
Am Uluru, oder Ayer`s Rock wie er von den Einwanderern genannt wird, dem für die Aborigines heiligen Berg, an dem über 30.000 Jahre alte Felszeichnungen zeigen können, wer hier die älteren Rechte hat, bittet ein Schild die Touristen, den Berg nicht zu besteigen. Einige Aborigines bekräftigen dies dadurch, dass sie die Leute direkt ansprechen. Ohne wirklichen Erfolg. Der größte Teil der Angereisten erklimmt den von der regionalen Touristenorganisation eingerichteten Pfad.
„Das meine ich mit eckig“ erzürnt sich Christian, „gar nicht an andere denken, einfach drauf“. 30 bis 45 Minuten braucht man dafür, informiert die Tourist Association auf ihrer Webseite und spornt Aktivurlauber mit den Worten an: „Der Rekord soll bei 12 Minuten liegen!“ – „Wir sind da nicht hoch“ ruft Georg während der Diavorführung ins Mikrofon, als das Bild vom Uluru auf der Leinwand erscheint. Von den Anwesenden verstehen das nicht alle. Ebenso nicht den tieferen Sinn von Rio Reisers Lied: „... ich habe viele Schwestern und ich habe viele Brüder... meine Brüder sind rot und meine Schwestern sind hell...“
Im Reiserschen Sinn hat Christian jetzt viele Brüder und Schwestern. Manche von ihnen versuchen er und seine Eltern einzuladen. Die Eintrittsgelder der Diavorträge werden hierfür genutzt. Doch auch wenn die Finanzierung steht, ist das immer noch keine Garantie für ein Einreisevisum. An der Entscheidung sind die deutschen Botschaften in den fremden Ländern beteiligt. Und für eine Ablehnung, trotz des erbrachten Nachweises aller geforderten Garantien, muss sich ein Botschafter nicht rechtfertigen, wie die Weltreisenden erfuhren. „Die müssen hier rein- und rausgehen dürfen“, fordert Christian.
Brigitte und Georg wollen wieder raus. So bald wie möglich. Und Christian? Als die drei sich in Sri Lanka von Ihren Freunden verabschieden, empfehlen diese: „Lasst ihn doch hier, der passt doch gar nicht in eure weiße Welt“. Christian sieht seine Situation realistisch: „Für einen Behinderten macht hier doch keiner die Tür auf“. In Deutschland nach der Reise wieder klar kommen, ist „schon sehr schwierig“. Statt Nähe erlebt er Distanz und Leute die sich fragen: „Was ist das denn für einer? Wie sieht der denn aus? Woher kommt der denn überhaupt? Aus einem Dritte-Welt-Laden?“
Solche Aussagen schrecken ihn ab, sollen ihn abschrecken. Und sie gehen nicht spurlos an Christian vorüber. Aber er resigniert nicht: „Ich habe so viele Freunde unterwegs gefunden, die waren nicht so. Da kannst du mir geschenkt bleiben“. Für ihn ist klar, dass er sich hier eine Existenz aufbauen will. Und wenn die Eltern gehen? „Ich komme auch gut alleine zurecht“, er fühlt sich gut aufgehoben bei den anderen Freunden. Zurzeit hat er einen Job als Landwirtschaftsgehilfe auf einem Bio-Bauernhof im ländlichen Oer-Erkenschwick. Der macht Spaß, bietet eine Perspektive sowie die Zusammenarbeit mit netten Kollegen. Und einen von ihnen versteht Christian besonders gut. Der kommt ursprünglich aus Sri Lanka.