Blattmacher Erstleser

Analphabetismus ist ein Tabu-Thema. Sieben erwachsene Frauen aus Dortmund schreiben darüber erste Texte in einer eigenen Zeitung

AUS DORTMUND VICKI MARSCHALL

Es wird diskutiert, gelacht und viel geschrieben in der Schreibwerkstatt „Die pfiffigen Stifte“. Was für die sieben Frauen vor kurzem noch undenkbar gewesen ist, macht ihnen jetzt sichtbar Freude. Marion, Rosi, Sabine, Ursula, Martina, Margit und Manuela waren Analphabeten. Funktionale Analphabeten, das heißt sie konnten ein paar Buchstaben entziffern und ihren Namen schreiben.

Jetzt entwerfen sie eine eigene Zeitung. Einmal im Monat treffen sie sich in den Räumen der VHS in Dortmund. Es ist ein Pilotprojekt im Rahmen der Alphabetisierungskampagne, die der Landesverband der Volkshochschulen seit einiger Zeit unterstützt.

Zögerlich beginnen die Frauen über ihre Schicksale zu sprechen. Martina hat die wenigsten Hemmungen. Die kleine quirlige Frau erzählt, welche Ausreden sie früher benutzt hat, um nicht aufzufallen: „Ich habe meine Lesebrille vergessen“ oder „ich habe jetzt keine Zeit“. Marion wartet die Statements der anderen ab, bevor sie spricht: Als Kind habe sie einen schweren Unfall gehabt. Danach sei sie in der Schule nicht mehr mitgekommen. „Mein Vater schlug mich, wenn ich mit schlechten Noten nach Hause kam“, erzählt die zweifache Mutter mit leiser Stimme, „dadurch wurde alles schlimmer.“

Die Schicksale der Frauen sind ein Querschnitt durch die Lebensverhältnisse der Analphabeten. Wer in den ersten Schuljahren das Lesen nicht lernt, bekommt während der gesamten schulischen Laufbahn keine Chance mehr dazu. Erst wieder in der Erwachsenenbildung der Volkshochschulen, wenn die Lebensumstände kaum mehr veränderbar sind. Keine der sieben Frauen hat eine Ausbildung. Drei arbeiten als Aushilfen. Bei allen findet sich die Ursache in der Kindheit: lange Krankheiten, zerrüttete Familien.

Rosis Geschichte ist fast unfassbar: Sie ist als Kind im Keller eingesperrt worden, möchte darüber aber nicht sprechen. Erst als Erwachsene lernte sie richtig sprechen, verarbeitete das Erlebte in psychologischer Betreuung. Heute ist die 30-Jährige verheiratet und hat zwei Kinder. Seit drei Monaten lernt sie Lesen und Schreiben. Sabine ist als Kind von einer Schule zur anderen geschickt worden. Für die Hauptschule war sie zu schlecht, galt als stur, weil sie sich nicht zur Rechtshänderin umerziehen ließ. „Der Lehrer band mir den linken Arm auf den Rücken“, erinnert sich 44-Jährige. Für die Sonderschule war sie zu gut, zurück auf der Hauptschule hatte sie keine Chance mehr. Erst mit 27 Jahren lernte sie wieder Lesen und Schreiben. Sie holte ihren Hauptschulabschluss an der VHS nach, gab eine kleine Zeitung aus losen Blättern heraus.

Das soll jetzt professionell werden. Eine Grafikerin übernimmt Fotos und Layout, Kursleiterin Birgitta Huse redigiert die von den Frauen verfassten Texte: Sabine schreibt über die Pflege ihrer Eltern, Ursula und Margit erklären Hartz IV. Marion übernimmt das Thema Schuldnerberatung. Sie kennt sich aus: Ihr Ex-Mann nutzte vor Jahren ihre Leseschwäche aus, ließ sie einen Zettel unterschreiben und anschließend auf einem Berg Schulden sitzen. „Wir wollen Mut machen“, sagt Rosi, „auch wenn sich viele nicht helfen lassen wollen“.

Ihre persönlichen Ziele treiben sie an: Sabine will eine soziale Ausbildung machen, am liebsten Entwicklungshelferin werden. Rosi möchte in der Behindertenbetreuung arbeiten. Ursula strebt das Abitur an. Nur für sich selbst. Martinas Wunsch ist eher bescheiden: „Ich möchte endlich richtig lesen und schreiben können, damit ich von niemandem mehr abhängig bin“.