Sonderschule als Zwangsveranstaltung

GERICHTSURTEIL Kinder können gegen den Willen der Eltern in eine Sonderschule gesteckt werden. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Schleswig liegt quer zu den Zielen von Bildungsministerin Erdsiek-Rave

Integration war früher – heute heißt das Motto der Behindertenpolitik Inklusion. Hinter Ute Erdsiek-Raves „Jahr der inklusiven Bildung“ steht ein neues Verständnis von Behinderung und Ausgrenzung: Statt wie bisher Menschen außerhalb einer wie auch immer beschaffenen Norm in eine die „Normalgesellschaft“ zu integrieren, besteht eine inklusive Gesellschaft aus gleichberechtigten Individuen mit mehr oder minder großem Förderbedarf. Menschen mit Behinderung sollen selbstbestimmter leben und Wohnort oder Arbeitsplatz frei wählen können. In letzter Konsequenz zielt Inklusion auf die Abschaffung aller Sonder- und Fördereinrichtungen von betreuter Werkstatt bis Förderschule ab. (est)

Ein zehnjähriges Mädchen aus Schleswig-Holstein muss eine Sonderschule besuchen, obwohl die Eltern sie in den Regelunterricht schicken wollen – das Verwaltungsgericht in Schleswig wies eine entsprechende Klage der Eltern auf freie Schulwahl ab.

In der Begründung heißt es, es sei die „Pflicht staatlicher Schulen, alle Schüler durch geeignete Maßnahmen zu fördern, bei denen ein besonderer Förderbedarf“ bestehe, das Kind habe „das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Bildung“. Die Richter stellten den „staatlichen Erziehungsauftrag“ über das Recht der Eltern, über die Bildung ihres Kindes zu entscheiden. Die Eltern dagegen fürchten, dass ihre Tochter durch den Sonderschulbesuch „zu einer Lernbehinderten degradiert“ werde.

Das Mädchen sei trotz Förderstunden „den Anforderungen der Grundschule nur in geringem Maße gerecht“ geworden, heißt es in einem Agenturbericht. Das Gericht stellte fest, es bestehe „ein öffentliches Interesse daran, dass Schüler, die nur mit besonderen Hilfen am Unterricht der Grundschule teilnehmen könnten, eine angemessene sonderpädagogische Förderung erhalten“.

Ob diese Förderung an den Sonderschulen optimal geleistet wird, ist strittig. Politisch geht der Weg zum gemeinsamen Unterricht – Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD) hat 2009 zum „Jahr der inklusiven Bildung“ erklärt. Aktuell werden rund 45 Prozent der Kinder mit besonderem Förderbedarf an Regelschulen unterrichtet. Damit liegt Schleswig-Holstein im Bundesvergleich in der Spitzengruppe.

Dennoch bleibt ein deutlicher Abstand zum europäischen Mittelwert: EU-weit werden 85 Prozent der Förderkinder regulär unterrichtet. Erdsiek-Rave hat das Ziel gesetzt, in zehn Jahren den europäischen Standard zu erreichen. Hintergrund ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die jede Ausgrenzung verbietet. ESTHER GEISSLINGER