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Archiv-Artikel

Ein Leben, das nach Weißkohl schmeckt

Altersarmut ist für Selma Döring kein Schlagwort, sondern Realität. Früher arbeitete sie als Grafikerin, heute muss die 74-jährige Rentnerin mit 250 Euro Grundsicherung auskommen. Das Amt hat ihre Fotoausrüstung längst verkauft und weist sie an, Strom zu sparen. Ein Beispiel für viele

VON MARTIN REICHERT

Die Haustür ist nur einen Spalt breit geöffnet, schummriges Licht dringt in den kalten Flur der Neubau-Mietkaserne, in dem es immer noch nach Mittagessen riecht. Dabei ist es schon neun Uhr abends – für Selma Döring*, 74, aus Berlin-Treptow die richtige Zeit, um Besuch zu empfangen, denn sie bezeichnet sich als Nachtmenschen. Sie empfängt den Besuch sitzend, umrahmt von einem glitzernden Vorhang, der sich bei näherem Hinsehen als ein Bündel alter Videobänder entpuppt, die entlang des Türrahmens drapiert sind. Die Königin der Nacht ist pleite, und der Thron ist ein Rollstuhl.

Altersarmut ist für Selma Döring kein Schlagwort, sondern bittere Realität, und die hat an diesem Tag nach Weißkohl mit Apfelessig geschmeckt. Den Weißkohl hat ihr ein Händler auf der Straße geschenkt. Er weiß, dass die alte Dame mit dem Rollstuhl nicht viel hat. 250 Euro bekommt sie vom Grundsicherungsamt, das auch ihre Wohnung finanziert (siehe Kasten).

Dort sitzt Selma Döring und kämpft mit Hilfe von 15-Watt-Birnen gegen die Trostlosigkeit an: Das Wohnzimmer hinter dem Videovorhang ist eine von Sonnenblumen-Lichterketten, Lampen und Lampignons durchzogene Höhle der Gemütlichkeit mit zentraler Lichtregie gleich neben dem Fernseher. Von hier aus kann Frau Döring alle Lampen an- und ausschalten, alles selbst installiert. Die 15-Watt-Birnen sind ein Zugeständnis an das Grundsicherungsamt, das sie zum Stromsparen aufgefordert hat. Für Selma Dörings persönliche Lichttherapie gibt es dort kein Budget, natürlich nicht.

In der DDR hatte sie als selbstständige Grafikerin gearbeitet, war stolz auf ihre Unabhängigkeit gewesen. „Madame Bovary“ hatte sie für den Aufbau-Verlag illustriert, Plakate entworfen, für Museen gearbeitet. Jetzt ist sie behindert und auf fremde Hilfe angewiesen. Eine ordentliche Rente bekommt sie nicht, es fehlen genau zwei Jahre, die Zeit, in der sie ihre Mutter gepflegt hatte. Vor vier Jahren hat man ihr das linke Bein abgenommen: „Wenn ich gewusst hätte, was auf mich zukommt, ich wäre lieber gestorben, als dieses Bein zu verlieren“, sagt sie. Man hat ihr nicht nur das Bein weggenommen, und es fällt ihr schwer, die Geschichte wieder zu erzählen, weil es die alten Wunden aufreißt.

Die schöne, alte Wohnung im Köpenicker „Märchenviertel“ weg, das kleine Gartengrundstück weg, ihre Arbeitsmaterialien, Fotoausrüstung und Labor, Kartonagen, Staffelei, Reißbrett weg. Instrumente von der Zitter bis zur Blockflöte weg, auch die wertvollen Bücher ihres Vaters.

Doch so wenig wie die Ärzte ihr das Bein gestohlen haben, wurden all diese Dinge böswillig entwendet: Sie wurden damals vom Sozialamt verkauft. Denn wer Sozialhilfe empfängt, darf kaum etwas besitzen. Alles korrekt, alles den Vorschriften entsprechend. Außerdem hätten all die schönen Sachen nicht in die neue, kleinere Wohnung mit Aufzug gepasst, die man ihr zugeteilt hatte, während sie noch im Krankenhaus lag. Bei ihrer Rückkehr fand sie sich in einer Plattenbau-Wohnung im Allende-Viertel wieder, mit Fenstern, die so hoch waren, dass sie aus dem Rollstuhl heraus nicht nach draußen schauen konnte.

In der jetzigen Wohnung sind die Fenster niedriger, aber es gibt nichts zu sehen. Die Welt kommt durch den Fernseher neben der Lichtregie ins Zimmer: Sie hat Sehnsucht nach Kanada und Südamerika, würde gerne mal nach Florenz. Im NDR läuft gerade eine Reportage über eine Aufräumspezialistin, die in Büros für Ordnung sorgt. Was die Dame wohl zu Frau Dörings Sammelsurium aus Hummelfiguren, Vasen und Plastikblumen sagen würde? Nur der Nippes ist ihr geblieben, dabei waren es die schönen Dinge, für die sie sich ein Leben lang begeistert hatte, für die sie ihr ganzes Geld ausgegeben hatte. „Die schönen Dinge erziehen den Menschen zu schönen Handlungen“, sagt sie.

An der Wand hängt ein Schwarzweißporträt der jungen Selma Döring, eine hübsche blonde Frau, herausgeputzt im schicken Kostüm. Eine Frau, die weiß, was sie will. Der Vater, Professor der Philologie, war zusammen mit achtzehn Schülern bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. 1945 war sie fünfzehn Jahre alt, es gab keine Männer mehr, und Doris klopfte zusammen mit ihrer Mutter Steine, um Berlin wieder aufzubauen. Am Kaiserin-Augusta-Lyzeum machte sie Abitur, studierte anschließend an der Meisterschule für Grafik, Druck und Werbung in Friedrichshain.

„Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich einmal so leben würde wie jetzt“, sagt Frau Döring. Für die jungen Kreativen rund um den Hackeschen Markt ist Altersarmut schließlich auch nur ein Begriff, sie „droht“ ja nur, und wenn alles gut geht, sitzt man irgendwann am Kaffeetisch und weiß beim Kreuzworträtsel nicht, was eine monatliche Wohngebühr mit fünf Buchstaben ist. Miete! So sind sie, die RentnerInnen, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung: Dort treten alte Menschen derzeit als Umverteilungsgewinner auf, die ihren Enkeln die Lätta vom Brot kratzen.

„In der DDR hätte man mir meine Sachen nicht weggenommen, der Kapitalismus macht die Menschen gierig“, sagt Selma Döring, „allerdings hat die DDR ihre Bürger entmündigt.“ Hoimar von Ditfurth gehört zu ihren Lieblingsautoren, gerade liest sie den Dalai Lama. „Ich brauche geistige Anregung, sonst gehe ich kaputt“, sagt sie.

Menschen, Freunde hat sie keine mehr. Zweimal die Woche kommt eine Frau vom Sozialamt und putzt das nackte Linoleum, dienstags kommt der Physiotherapeut. „Eigentlich sind alle tot“, sagt Frau Döring. Sie ist lange geschieden, hat keine Kinder.

Erneut erzählt sie von ihrer alten Wohnung in Köpenick, dort hatte sie in ihrem Schlafzimmer drei Tonbandgeräte installiert, in jeder Ecke eines. Vom Bett aus konnte sie alle Geräte anschalten. „Man hat kein Kabel gesehen, alles war unter dem Teppich“, erzählt sie stolz, an, aus, an, aus, Dolby-Surround im Köpenicker Märchenviertel, aber die Geräte sind alle weg, die Tonbänder auch. „Es zuckt mir in den Beinen, wenn ich schöne Musik höre“, sagt sie und blickt leicht erschrocken zu Boden. Es ist ja nur noch ein Bein. „Ich habe noch Interessen wie ganz junge Menschen“, beharrt sie und erzählt, wie sie mit dem elektrischen Rollstuhl bis zum Wannsee gefahren ist. Mittlerweile haben die Akkus nachgelassen. Als sie neulich im Tierpark war, ist sie gerade noch nach Hause gekommen.

Auch der auf Raten gekaufte Videorecorder hat den Geist aufgegeben, eine Reparatur wurde vom Sozialamt nicht bewilligt. Dieses Thema macht Frau Döring richtig fertig. Als sie Sozialhilfeempfängerin wurde, hatte man ihr sogar die letzten 1.000 Mark auf ihrem Konto weggenommen. Sie hätte das vierfache dieser Summe offiziell behalten können, wenn sie den Betrag angegeben hätte. Davon habe sie doch gar nichts gewusst, sagt sie wütend. Zur Strafe musste sie das Geld abgeben. Alles nach Vorschrift, ganz korrekt. „Mein Leben war sinnlos, man hat mir alles weggenommen“, sagt Frau Döring. Ihr Leben scheint sie in diesem Moment als eine einzige Verlustanzeige zu empfinden.

Im Fernsehen läuft nun eine Reportage über Licht und dessen Bedeutung für die Psyche des Menschen. Es sind Motten zu sehen, die sich auf eine Lampe stürzen. Selma Döring blickt auf den Bildschirm, ihre Tränen verschwinden hinter reflektierenden Brillengläsern.

* Name geändert