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Archiv-Artikel

„Merkels Mitgefühl wirkt kalt kalkuliert“, meint Franz Walter

Die CDU hat keine Idee, wie sie die Unterschichten, denen sie ihre Wahlsiege verdankt, bis 2006 an sich binden will

taz: Herr Walter, die glänzenden Wahlsiege der Union seit 2003 basierten wesentlich auf dem Zulauf unterer Schichten, die der SPD enttäuscht den Rücken gekehrt hatten. Wie stehen die Chancen für die Union, diese Klientel auch 2006 zu gewinnen?

Franz Walter: Das ist eine zentrale Frage. Es wurde lange nicht richtig bemerkt, dass die Union 2003 und Anfang 2004 zur Arbeiterpartei geworden ist. Allerdings ist dies im Herbst bei den Wahlen im Osten schon zurückgegangen. In Sachsen hat die CDU bei Arbeitern und Arbeitslosen fast ein Fünftel verloren.

Was will die Union dieser Klientel anbieten?

Verblüffenderweise nichts. Sie hat noch nicht mal versucht, diese Schicht an sich zu binden. Weder realpolitisch – bei Sozialstaatsreformen ist sie ja schärfer als Rot-Grün –, aber auch nicht rhetorisch und symbolisch. Erstaunlich ist dies, weil es ja im katholischen Konservatismus eine lange Tradition des Kümmerns um die Unterschichten gibt, eine patriarchale Ansprache an jene, die man früher die nicht klassenbewussten Teile der Unterschicht genannt hat. Aber die Merkel-CDU tut nichts, um diese Tradition aufzugreifen.

Dann kann die Schröder-SPD also in aller Ruhe abwarten, dass die verlorenen Schäfchen wieder zurückkommen?

Automatisch läuft das nicht. Aber Schröder macht das Richtige, indem er dem Rollenmodell des „mitfühlenden Konservatismus“ folgt. Zwei Jahren lang gab es von ihm unvermeidliche Härten – jetzt übernimmt er die Rolle des strengen, aber verständnisvollen Vaters, der sich kümmert, die Ängste anerkennt. Dazu passt, dass Schröder ein Kind adoptiert hat, mal einen Presseball verpasst, weil er sich zu Hause kümmern muss. Er übernimmt eine Position, die die Merkel-CDU geräumt hat. Damit – erst etwas abverlangen, dann sich anerkennend zuwenden – hat er schon vier Wahlen gewonnen.

Die Union hat die Bundestagswahlen 2002 in den urbanen modernen Milieus verloren. Wird sie mit Merkels Linie, gedämpft marktradikal, dort punkten können?

Diese Analyse ist nur teilweise richtig. Es mag langweilig und gar nicht neumittig klingen – aber die Wahlen der letzten zwei Jahre hat gewonnen, wer die Mehrheit der über 60-jährigen Frauen auf seiner Seite hatte. Das war beim rot-grünen Sieg 2002 so, bei Ole von Beusts Sieg in Hamburg, bei Henning Scherf in Bremen, der als einziger Sozialdemokrat den Abwärtstrend der SPD stoppen konnte. Bei dieser Gruppe, die übrigens in Zukunft noch wachsen wird, kommen kühle Modernisierer oder gar scharfe Polarisierer nicht gut an, verständnisvolle, moderate Figuren, die Empathie ausstrahlen, hingegen schon. Nur wer diese Rolle spielen und ausfüllen kann, wird 2006 gewinnen. Das ist für Merkel/Westerwelle ein echter Nachteil.

Nun hat Merkel ja in ihrer Parteitagsrede versucht, wärmer, persönlicher zu wirken, und nicht nur von Reformen, sondern von Werten geredet …

… ja, aber es reicht nicht, diese Rolle mal zu spielen, weil die Berater in den Think-Tanks meinen, dass man jetzt Bushs Erfolgsrezept imitieren muss. Merkels Rede hinterließ den Eindruck, dass diese Rolle, wärmer zu wirken, kalt kalkuliert war. So etwas funktioniert nicht. Es ist zu plötzlich, es wirkt ausgeheckt, fast architektonisch …

wie früher bei Schröder …

… wenn er sich bei SPD-Parteitagen auf sozialdemokratische Geschichte berief, das war ähnlich gestellt. Aber Schröder kann den Leuten, selbst wenn er damit zu oft kokettiert hat, vermitteln, dass er von unten kommt und weiß, wie es dort zugeht.

Welche Rolle spielen die viel beredeten urbanen Mittelschichtsmilieus für die Union?

Bei den Wahlen in Sachen und Brandenburg hat die CDU bei zwei völlig verschiedenen Frauentypen verloren: bei den Älteren und den ganz jungen. Die CDU hat sogar bei ihren enormen Siegen bei Landtagswahlen oft bei den 18- bis 24-jährigen Frauen verloren – und zwar an die Grünen. Die Grünen gewinnen bei den Jungwählern inzwischen wieder so wie in den 80er-Jahren – aber nicht, wie damals von der SPD, sondern in den tiefbürgerlichen Quartieren der Großstädte. Deshalb steht Rot-Grün derzeit in den Umfragen ganz gut da: Die Grünen binden diese urbane Klientel – und eben nicht die FDP, die dafür offenbar einfach zu uninteressant ist. Der Versuch der Union, bürgerliche Werte gegen Rot-Grün in Stellung zu bringen, ist daher ziemlich problematisch. Denn die Grünen sind längst auch eine bürgerliche Partei, ohne Bohemien-Image und ohne alternative Verrücktheiten.

Merkel setzt nun dagegen auf Patriotismus – das soll Abgrenzung gegen Rot-Grün und etwas für das konservative Gemüt bringen. Ist das aussichtsreich?

Das wirkt auch zu künstlich, zu ausgedacht, um Sinn zu stiften. Gibt es denn eine gewachsene patriotische Mentalität, die innerhalb des Bürgertums nach vorne drängt und nun endlich ihren Ausdruck gefunden hat? Kaum. Außerdem ist es für eine Oppositionspartei schwierig, auf staatstragenden Patriotismus zu setzen. Mit tief zerfurchtem Antlitz Verantwortungsschwere auszudrücken – das ist doch eher die Rolle des Kanzlers. Die Opposition kritisiert stets – und das wirkt naturgemäß wenig patriotisch.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE