Ein Kilogramm Welt

Die Welt wiegt ungefähr ein Kilogramm – zumindest im Herbst. Immer, wenn die fallenden Blätter das Ende des alten Jahres einläuten, besorgen ein paar Verlage die enzyklopädische Aufarbeitung des nächsten. Herbstzeit ist Almanachzeit. Wer regiert wo wie lange mit wem? Was sind die politischen Kernereignisse, was die ökonomischen, wissenschaftlichen, kulturellen oder gar sportlichen? Wer gewann den Literaturnobelpreis 2003, wer die Nachwahlen im Repräsentantenhaus? Welche Personen, Organisationen, Aktionen stehen im Blickpunkt? Und vor allem: Was passiert eigentlich 2004? Im Wesentlichen versuchen vier richtig dicke Bücher diesen und ein paar Millionen anderer Fragen nachzugehen: Der „Fischer Weltalmanach“, „Harenberg Aktuell“, das „Spiegel-Jahrbuch“ aus dem Hause dtv und das ADAC-Länderlexikon „Die Welt“.

Jede Vorliebe wird bedient. Da ist der Fischer Weltalmanach“, der Klassiker, der als einziger dieses sonderbare Wort, das ein wenig nach Tübinger Kellerarchiv klingt, im Titel führt. Er ist so unsagbar sachlich und nüchtern, dass es staubt. Kein einziges Foto, kein Sport, keine Society, dafür Fakten, Fakten, Fakten aus Politik, Kultur, Wirtschaft. „Harenberg Aktuell“, das „Jahrbuch Nr. 1“, wie es sich auf dem Cover selbst lobt, ist bildreicher und tabellenfreudiger, dafür textärmer. Man erfährt aber immerhin nicht nur was über Staaten, gestorbene Promis und den Irakkrieg, sondern auch über Bundesliga, Viagra und Evolutionslehre. Das Spiegel-Jahrbuch“, der Emporkömmling, ist wie der Namensgeber sprachlich blumig, fotoverliebt, breiter gestreut, wenn man so will: boulevardesker. Und „Die Welt“, das Lizenzprodukt aus England? Ein riesiges Pictogramm in Atlasformat, übersichtlich, leicht verständlich, aber wohl eher was zum Schmökern für die Familie im Urlaubsstau als für Intellektuelle mit Wissenslücken.

Wären die Parteien Almanache, hieße die CDU vielleicht „Fischer“, die SPD „Harenberg“, die Grünen „Spiegel“ und die FDP „ADAC“. Das funktioniert so natürlich nicht, denn die Almanache kommen alle ziemlich unideologisch daher. Man muss schon ins Detail gehen. Gimmicks haben sie alle, kleine Sonderinfos, die die anderen nicht haben – das Jahrbuch“ offeriert Ferientermine und Bilder von ganzen Menschen, Die Welt“ Wissenswertes über den Kosmos und Geografie, „Aktuell“ alle Nobelpreisträger seit 1901 und den gesamtolympischen Medaillenspiegel, „Fischer“ alle Oberbürgermeister und eine Karte der Weltreligionen. Doch erst der Stichprobenvergleich bringt die ultimative Unterscheidbarkeit, sagen wir Deutschland und Peru, EU und AU, Kofi Annan und Susan Sontag.

Es überrascht nicht, dass das Land im Herzen Europas oft mehr Platz erhält als der Andenstaat. Bei „Fischer“ kriegt Deutschland 46 Seiten im obligatorischen Staatenteil, Peru gerade drei. Im Harenberg“ ist das Verhältnis zwar viereinhalb zu eins, aber der 400 Seiten starke Stichwortteil von Altersteilzeit bis Welthandel dreht sich eigentlich unentwegt um den Standort D. Ähnlich der Spiegel“, anders der ADAC“. Dort kriegt kein Land weniger als zwei Seiten, keines mehr als sechs und Peru liegt sogar in der Mitte. Demokratische Autospezies.

Bei der EU sind die zwei Klassiker on top, der „Spiegel“ legt schon weniger Wert auf internationale Organisationen im Detail, und dem ADAC“ sind sie völlig schnurz. Und die Afrikanische Union (AU)? Dreimal Fehlanzeige, nur „Fischer“ bietet eine Seite. In genau diesem Verhältnis wird auch UN-Generalsekretär Kofi Annan abgehandelt, und Susan Sontag findet mit Ausnahme des „ADAC“ überall ein paar Zeilen Erwähnung. Ein halbes Gramm für die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels in kiloschwerer Überblicksware – die Welt ist eben zuerst politisch. JAN FREITAG

„Aktuell 2004“, Harenberg Lexikon Verlag, 756 Seiten, 14,80 Euro„Der Fischer Weltalmanach 2004“, Fischer Verlag, 746 Seiten, 26,90 Euro (inkl.CD-ROM)„Jahrbuch 2004“, Spiegel/dtv, 640 Seiten, 14,50 Euro