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Archiv-Artikel

„Arme Leute sind weniger frei“

Der scheidende Siemens-Vorstandschef Heinrich von Pierer sieht Chinas Wirtschaft nicht als Bedrohung. Allerdings muss Deutschland Gegenmaßnahmen ergreifen, auch in der Bildung

taz: Herr von Pierer, Siemens will deutsche Sicherheitstechnik für geplante chinesische Atomkraftwerke liefern und dafür Hermes-Bürgschaften der Bundesregierung erwirken.

Heinrich von Pierer: Das Thema Sicherheitstechnik stand doch gar nicht auf der Tagesordnung, und für die in China geplanten Kernkraftwerke gibt es auch keine Ausschreibungen, bei denen wir uns bewerben könnten. Folglich steht auch keine Hermesbürgschaft zur Diskussion, mit der sich die Bundesregierung befassen müsste.

Wie können sich deutsche Arbeitnehmer, deren Arbeitsplätze durch die Globalisierung bedroht sind, mit Ihrer Expansionsstrategie in China identifizieren?

Das ist doch eine Riesenchance. Vier Arbeitsplätze von Siemens in China schaffen einen Arbeitsplatz in Deutschland. Das lässt sich an vielen Projekten konkret nachvollziehen. Wir müssen aus Kostengründen und weil die Kunden es verlangen, die Produktion in China aufbauen, aber dabei gibt es immer auch Lieferströme aus Deutschland. Die Lokalisierung ist nie vollständig.

Haben Sie keine Arbeitsplätze direkt von Deutschland nach China verlagert, etwa in der Handy-Produktion?

Wir haben parallele Produktionen in China aufgebaut, aber das sehe ich nicht als Verlagerungen. Unsere insgesamt fast 4 Milliarden Euro Umsatz in China kommen auch deutschen Arbeitskräften zugute.

Viele Japaner fühlen sich von Chinas Wachstum bedroht, das könnte den Deutschen auch bald so gehen

Wettbewerb hat für manche Menschen etwas mit Bedrohung zu tun. Fakt ist: Wenn Aufträge verloren gehen, sind Arbeitsplätze bedroht. Das wird immer so sein. Aus China kommt uns heute die Kombination von Niedrigkosten und Hochtechnologie entgegen. Das müssen wir zur Kenntnis nehmen und Gegenmaßnahmen ergreifen.

Ein Bedrohungsempfinden ist also gesund?

Ich habe keine großen Wahlmöglichkeiten. Wir müssen die Herausforderungen annehmen. Wobei wir Deutschen keinen Grund zu der Annahme haben, dass wir abgeschrieben sind, wenn wir uns auf unsere eigenen Stärken besinnen und Gegenrezepte entwickeln. Von unserer Wettbewerbsfähigkeit hängt unser Wohlstand ab und am Ende unsere Freiheit. Denn arme Leute sind weniger frei als diejenigen, denen es gut geht.

Die EU und China kooperieren beim Satellitennavigationsprojekt Galileo – eine Technik, die in Zukunft auch militärisch relevant sein kann. Zudem ist eine Aufhebung des EU-Waffenembargos im Gespräch. Befürworten Sie diese Entwicklung?

Die europäische Partnerschaft mit China wird sich weiter entwickeln, auf wirtschaftlichem, technologischem, politischem und kulturellem Gebiet. Die militärischen Implikationen kann ich bei Galileo nicht sehen. Aber wir müssen hier eine starke eigenständige deutsche Rolle entwickeln. Wir werden in China nur dann ein ernst zu nehmender Partner bleiben, wenn wir technologisch etwas zu bieten haben.

Wie viel politische Eigenständigkeit kann sich Deutschland gegenüber China leisten?

Die politische Stärke Deutschlands wird durch seine wirtschaftliche, und die wirtschaftliche durch seine technologische Stärke begründet. Politische Eigenständigkeit ist keine Willenssache, sie hängt davon ab, wie gut wir wirtschaftlich und technologisch aufgestellt sind.

Grenzen wir uns heute zu sehr von den USA ab, die der EU und China zunehmende Ambitionen für eine militärische Kooperation unterstellen?

Ich kenne die Unterstellungen der Amerikaner nicht. Ich meine aber, dass die Zusammenarbeit der Amerikaner mit den Chinesen äußerst intensiv ist. Inwieweit sie sich auch auf den militärischen Sektor erstreckt, Beispiel Nordkorea, kann ich nicht beurteilen. Ich sehe aber auch nicht, wo wir in Europa einen militärischen Beitrag leisten, als Siemens ganz bestimmt nicht. Aber ich sage den Amerikanern: China heute nur als militärische Herausforderung zu verstehen, ginge an der eigentlichen Herausforderung völlig vorbei.

Die wäre?

Es gibt heute schon einen globalen Wettbewerb um das beste Bildungssystem. Da bemühen sich die Chinesen mit aller Macht, an die Spitze zu kommen. Das müssen wir in Deutschland verdammt ernst nehmen.

INTERVIEW: GEORG BLUME