: Bloß keine „Pralinengipfel“ mehr
Kerneuropa ist nicht schlimm. Schon jetzt gibt es in der EU unterschiedliche Geschwindigkeiten. Nur müssen sich die Kernländer an den EU-Rahmen halten
Kaum ist der Brüsseler Gipfel zur Verfassung der Europäischen Union gescheitert, legen die Nettozahler der Union nach. Frankreich, Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, Schweden und Österreich fordern, demnächst in einer EU 25 die Beiträge für den EU-Haushalt zu kappen. Beides – die Uneinigkeit über die Verfassung und der Streit über den Haushalt – deutet die Fortsetzung eines Trends an, der seit längerem im europäischen Integrationsprozess in Theorie und Praxis eingesetzt hat – nämlich die Flexibilisierung der Integration. Volkstümlich kann man auch von Grüppchenbildung in der Gemeinschaft sprechen. Dieses Phänomen ist zunächst mit Gelassenheit zu betrachten.
In einer immer größeren und komplexeren EU wird es notwendigerweise schwieriger, auf der Basis der Einstimmigkeit zwischen den Mitgliedstaaten neue Schritte zur Vertiefung der Integration zu gehen. Zurzeit erfordern die europäischen Verträge in den meisten wichtigen Politikfeldern noch diese Einstimmigkeit. Somit wird die EU in weiten Teilen noch immer vom Prinzip des Intergouvernementalismus bestimmt – nämlich dass in entscheidenden Fragen alle Staaten zustimmen müssen.
Das Scheitern der EU-Regierungskonferenz in Brüssel über den vom Konvent vorgelegten Verfassungsentwurf für die Europäische Union hat deutlich gemacht, wie schwierig es in einer EU 25 ist, zu einstimmigen Entscheidungen zu gelangen. So konnten zwei Staaten, letztendlich sogar nur einer, den vom Konvent wie auch den allermeisten Mitgliedstaaten gewollten Vertiefungsprozess blockieren.
Um dieser Blockademöglichkeit zu entgehen, wird seit langem über das Konzept der Flexibilisierung nachgedacht. Wenn nicht alle EU-Mitglieder das gleiche Tempo bei der Übertragung von Souveränität oder Teilsouveränität an die EU mitgehen wollen, dann sollen zumindest jene, die es können und wollen, diese verstärkte Kooperation praktizieren dürfen. Diese Zusammenarbeit vollzieht sich dann zwar auch innerhalb der EU-Verträge, jedoch in einem Kerneuropa.
Dieses Konzept ist nicht neu. Beispielsweise ist die im Maastrichter Vertrag von 1992 beschlossene Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) geradezu eine klassische Variante eines Kerneuropas der Währungspolitik. Nur jene Länder erhielten den Zutritt zur dritten Stufe der WWU, denen 1998 die Erfüllung der fiskalpolitischen Kriterien vom Rat der EU attestiert wurde. Länder wie zum Beispiel Großbritannien, die eine Opt-out-Klausel im Maastrichter Vertrag für sich geltend gemacht hatten, brauchten nicht an der WWU teilnehmen.
Eine differenzierte Form der Flexibilität wurde auch für die Sozialpolitik entwickelt. So blieb Großbritannien unter den konservativen Regierungen von Maggie Thatcher und John Major außerhalb der Sozialunion. Erst die Regierung Tony Blairs unterzeichnete das Sozialprotokoll, und Großbritannien wurde damit Mitglied der Sozialunion. Auch die seit 1985 durch die Schengener Abkommen entwickelte Öffnung der Binnengrenzen mit dem passfreien Reisen ist mit dem Vertrag von Amsterdam 1997 in den gemeinsamen Vertragsrahmen der EU übertragen worden. Dabei haben Großbritannien und Irland wie auch Dänemark Opting-out-Regelungen erreichen können. All dies sind Beispiele dafür, dass ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten schon jetzt funktioniert.
Um den Zusammenhalt innerhalb der Union aufrechtzuerhalten und einer Zerfaserung der Gemeinschaft vorzubeugen, muss allerdings gewährleistet sein, dass auch die übrigen Teilnehmer, die sich nicht an einem Vertiefungsprojekt beteiligen, an diesem Projekt beteiligt werden können, wenn sie es wünschen. So haben auch die heute noch nicht an der WWU teilnehmenden Staaten Großbritannien, Dänemark und Schweden die Möglichkeit, den Euro einzuführen, vorausgesetzt, sie erfüllen die im Maastrichter Vertrag aufgestellten Kriterien.
Flexibilisierungsklauseln wurden in den Verträgen von Amsterdam und Nizza eingeführt. Allerdings sind weiterhin starke Restriktionen hinsichtlich der Flexibilisierung vorgesehen, denn die verstärkte Zusammenarbeit darf nur für bereits im Vertrag verankerte Politikbereiche angewendet werden. Gleichzeitig darf der bestehende Rechtsbestand nicht beeinträchtigt werden.
In den Diskussionen, die der Einsetzung des Europäischen Konvents zu Beginn des neuen Jahrhunderts vorangingen, forderten führende Politiker wie der deutsche Außenminister Joschka Fischer ein Gravitationszentrum, der französische Präsident Jacques Chirac eine Pioniergruppe und der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors eine Avantgarde. So näherte man sich, wenn auch mit unterschiedlichen Begriffen, gedanklich im Europadialog des Jahres 2000/2001 der Idee eines Kerneuropas.
Daher erstaunt es nicht, dass auch der neue Verfassungsentwurf die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit unter Achtung der Verfassung und des Rechts der Europäischen Union enthält. Diese Zusammenarbeit einer Kerngruppe ist allerdings wiederum an strikte Vorbedingungen gebunden.
Problematisch an der Flexibilisierung ist, dass sich unterschiedliche Mitgliedstaaten auf unbefristete Zeit an bestimmten gemeinsamen Politikfeldern nicht zu beteiligen brauchen, was letztendlich zu einer Desintegration der EU führen könnte. Auch die Tatsache, dass unterschiedliche Kerneuropas mit verschiedenen Mitgliedern existieren können, könnte zur Zerfaserung der EU führen. Besonders kritisch für die Union wäre es jedoch, wenn sich eine Zusammenarbeit außerhalb der EU-Verträge entwickeln würde und damit einzelne Kerneuropas mit unterschiedlichen Mitgliedern und verschiedenen Kompetenzen entstünden.
In solch einem Fall – und der „Pralinengipfel“ von Brüssel im Sommer dieses Jahres zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien und Luxemburg zwecks einer engeren militärischen Zusammenarbeit dieser Staaten hat ja einen Vorgeschmack davon gegeben – würden zwar höchstwahrscheinlich die Kernländer der alten EG meistens vorangehen, aber ganz sicherlich auch zur Verringerung der Bedeutung der Europäischen Union beitragen. Auch wäre das ursprüngliche Ziel, den europäischen Kontinent nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu einen, was jetzt mit dem Beitritt der zehn MOE-Staaten nahezu erreicht wird, wiederum auf den Kopf gestellt.
Ohne Zweifel wird es in einer auf 25 oder 27 Staaten erweiterten Union nicht ohne Steuerung in der Gemeinschaft gehen. Es wird in Zukunft innerhalb der EU 25/27 ausgelotet werden müssen, welche Staaten in welchen Politikfeldern vorangehen können, ohne dass den anderen die Möglichkeit genommen wird, zu einem späteren Zeitpunkt dazuzustoßen. Daher sollte erst dann auf das Konzept des Kerneuropas zurückgegriffen werden, wenn die gemeinschaftliche Steuerung nachweislich versagt.
WICHARD WOYKE