: Der Wandlungsfähige
Als Ronald Reagan Mitte der Achtzigerjahre im Weißen Haus saß, herrschte eine Zeit einfacher Weltbilder. Da war vom Reich des Bösen die Rede, von guten Freiheitskämpfern und üblen Terroristen, vom Kampf gegen den Terror und den schlappen Europäern (einzige Ausnahme: Margaret Thatchers Großbritannien). Im Visier der USA stand damals auch der libysche Revolutionsführer Muammar al-Gaddafi. Am 15. April 1986 bombardierten die USA Ziele in Tripolis und Bengasi wegen Verwicklungen Libyens in den internationalen Terrorismus, ein Thema, das sich bis in die jüngste Zeit halten sollte. Von der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen war noch nicht die Rede. In Libyen wiederum wurden die USA gerne in Gestalt eines Kraken dargestellt, dessen gierige Fangarme ganz Afrika im Griff hielten.
In den vergangenen Jahren war es Gaddafi selbst, der nach einigen gescheiterten „Vereinigungen“ mit anderen Staaten ganz Afrika als Terrain für politische Einflussnahme und theatralische Auftritte betrachtete. So startete er nach dem Gipfeltreffen der neu gründeten Afrikanischen Union Anfang Juli 2002 eine Propagandatour durch den Süden des Kontinents: mit 60 gepanzerten Autos, zwei Bussen und einem Tanklaster. Fantasievolle Auftritte waren schon immer sein Markenzeichen: Bei Staatsbesuchen brachte er sein Zelt und Kamelstuten mit; er umgab sich mit weiblichen Bodyguards, kleidete sich abwechselnd in Beduinengewänder, Operettenuniformen oder Armani-Anzüge. Seine letzten spektakulären Aktionen dienten jedoch vor allem dazu, sein Land, das mit Sanktionen belegt war, in die internationale Gemeinschaft zurückzuführen. So vermittelte er bei der Freilassung von Geiseln auf den Philippinen oder in der Sahara.
Gaddafi wurde vermutlich 1942 in der libyschen Wüste bei Sirt als Sohn einer Beduinenfamilie geboren. 1963 trat er in die Armee ein, wo er die besten Chancen sah, die „libyschen Volksmassen“ zu befreien. Einen Teil seiner Ausbildung absolvierte er in Großbritannien. Es war die Zeit des Panarabismus, geprägt vom damaligen ägyptischen Staatschef Gamal Abdel Nasser. An die Macht kam Gaddafi am 1. September 1969 bei einem unblutigen Putsch gegen den König Idris. Die ausländischen Militärbasen im Land wurden geschlossen und ausländische Unternehmen verstaatlicht.
Mit den Petrodollars wollte Gaddafi die Beduinengesellschaft in einen Wohlfahrtsstaat verwandeln. Er führte unter anderem eine kostenlose Schulbildung und eine unentgeltliche medizinische Versorgung ein und untersagte die Diskriminierung der Frauen, was jedoch nicht der Realität im Lande entspricht.
Kehrseite waren eine harte Repression gegen alle im In- und Ausland, die sich seiner Ideologie des „Grünen Buchs“ entgegenstellten, einer Art Mischung von Volksherrschaft, Islam und permanenter Revolution. Vermutlich sind es alte Kontakte aus diesen Zeiten, die ihm die Vermittlung in den Entführungsfällen ermöglichten und damit zu seiner politischen Kehrtwende beitrugen. BEATE SEEL