taz-adventskalender (10): JVA Tegel
: Das Tor in die Freiheit hakt ein paarmal im Jahr

Stehen Sie auf fade Schokotäfelchen? Wir auch nicht. Die Türen des taz-Adventskalenders verbergen anderes: geheime Schätze und wilde Tiere. Sex and Crime. Letzte Dinge. Bis Weihnachten öffnen wir täglich eine Tür – auf einem Kalender namens Berlin.

Exakt 15.55 Uhr war es laut Anstaltschronik, Mitte August 1908. Vor dem Backsteintunnel, an dessen Ende sich gleich ein Tor öffnen sollte, wartete ein Mann Ende 50. Obwohl er zu diesem Zeitpunkt von Carl Zuckmayer als „Hauptmann von Köpenick“ nicht literarisch verewigt war, galt Wilhelm Voigt schon damals als der berühmteste Häftling der erst zehn Jahre zuvor eröffneten Justizvollzugsanstalt Tegel.

Heute gehen im Schnitt täglich drei Häftlinge den gleichen Weg wie Voigt vor 96 Jahren: durch Tunnel und Tor in die Freiheit. Ein Schiebegitter mit Glasscheiben zwischen den Stahlstreben sperrt den Tunnel, hinter dem das Gefängnisdasein zu Ende ist. Über 100-mal geht es auf und zu pro Tag – weshalb es auch ein paarmal im Jahr hakt und von einer auswärtigen Firma repariert werden muss.

Gut eineinviertel Jahr ist es her, dass zuletzt einer ohne Entlassungsschein aus Tegel rauswollte. Das klappte auch. Als ein Gefangenentransporter in den Tunnel fuhr, war er mit dabei – nicht oben eingeschlossen, sondern unter dem Wagen in einer Vertiefung angebunden. Deswegen sahen ihn die Wärter nicht, obwohl sie den Wagenboden mit einem Spiegel kontrollierten. Der Weg aus dem Gefängnis maß aber nur wenige hundert Meter bis zur nächsten Ampel: Als der Häftling absteigen wollte, sah ihn der Fahrer im Rückspiegel, verfolgte und fasste ihn. Mit einer Leiter über die Mauer versuchte es zuletzt einer Mitte der 90er-Jahre. Vergeblich.

Im Musical „Les Misérables“ gibt es für einen Fluchtversuch ein zusätzliches Jahr Knast, im Filmklassiker „Gesprengte Ketten“ mit Steve McQueen quälende Bunkerhaft. Nicht so in Tegel. „Das ist ja der natürliche Freiheitsdrang eines Menschen, das wird nicht mit Disziplinarmaßnahmen belegt“, sagt Bernd Engelke. Der grauhaarige 53-Jährige hat selbst einen beträchtlichen Teil seines Lebens in der Justizvollzugsanstalt verbracht: Der Sicherheitschef des Gefängnisses arbeitet seit 1974 in Tegel.

Engelke schließt die Türen am Tor mit einem gewichtigen Schlüsselbund auf. Fast nur Bartschlüssel sind dran, keine gezackten wie für die private Wohnungstür. Solche Schlösser seien zu leicht mit Kaugummi oder einem Streichholz unbrauchbar zu machen, sagt Engelke.

Im Tunnel vor der Freiheit stapelt sich Tannengrün auf dem Boden. Adventsschmuck für die Zellen? Nein, das sei für draußen, sagt Engelke. Wie ein ganze Reihe sonstiger Produkte „made in Tegel“ sind, Kinderspielzeug etwa oder Tiffanyarbeiten. Auch Kleidung ist dabei, mit hauseigener Marke „Jailwear since 1898“.

Nicht nur der Mauerkletterer wählte einen anderen Weg in die Freiheit als Wilhelm Voigt. Als Ende November 2003 ein bekannter Schauspieler entlassen wurde, ging der nicht durch den Tunnel. Zu viele Kamerateams und Journalisten warteten auf der anderen Seite. Durch Tor 2, einen Nebenausgang, verließ Günther Kaufmann die Haftanstalt.

STEFAN ALBERTI

Morgen: Fraenkelufer 48