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Archiv-Artikel

„Die aktuelle Politik hat auf den Waldzustand keinen Einfluss“, sagt Michael Müller

Wer dem Wald Gutes tun will, sollte abwarten und weitermachen wie bisher. Ob es hilft, ist erst in fünfzig Jahren klar

taz: Herr Müller, der Waldzustandsbericht 2004 weist erschreckend hohe Schäden aus. Überrascht Sie das?

Michael Müller: Eher weniger. Dem Wald geht es seit Jahren schlecht – und das kontinuierlich. Verantwortlich sind die Luftschadstoffe und die Waldstrukturen.

Zumindest die Politik ist überrascht. Wie bewerten Sie die Arbeit von Umweltminister Jürgen Trittin und Landwirtschaftsministerin Künast?

Die aktuelle Politik hat wenig Einfluss auf den heutigen Waldzustand. Schäden entwickeln sich über Jahrzehnte. In den Achtzigerjahren hat man das erkannt und seitdem hat die Politik etliches unternommen. Dass das durchaus erfolgreich war, können Sie am Zustand der Nadelbestände sehen – deren Gesundheit hat sich nämlich gebessert.

Woran liegt es dann, dass die Schadenszahlen in diesem Jahr so hoch sind?

Zu den permanenten Krankheitsursachen kommen in diesem Jahr spezielle hinzu: der warme Sommer 2003. Der hat für Schädlingspopulationen beste Entwicklungsbedingungen verursacht. Das Ergebnis ist in diesem Jahr messbar, wir haben erhebliche Schäden durch blatt-, nadel- und rindenschädigende Insekten. Die Trockenheit hat speziell für die Laubbäume eine schwierige Überwinterungssituation mit sich gebracht, was speziell bei den Eichen zu einer Austriebsdepression im Frühjahr führte. Auch Stürme wie „Lothar“, „Wiebke“ oder „Vivian“ haben ihren Anteil. Ich kann mich nicht erinnern, einmal so viele Sturmschäden gehabt zu haben wie im letzten Jahr. Sturmschäden sind bester Brutraum für Schädlinge, die sich dann ganz schnell ausbreiten.

Ein warmer Sommer, extreme Sturmschäden – ist der Wald Opfer eines einsetzenden Klimawandels?

Es handelt sich zunächst um ein singuläres Ereignis, das nicht vorhersehbar war. Sicherlich gibt es bei den Klimaforschern mittlerweile die statistische Sicherheit, dass sich die Temperatur erhöht. Wie das sich aber auf den Wald auswirken wird, wissen wir noch nicht.

Unter permanenten Krankheitsursachen verstehen Sie Schadstoffe. Brauchen wir schärfere Grenzwerte?

Nein. Sicherlich ist Stickstoff heute ein großes Problem für die Wälder. Aber das kam eher indirekt: Andere Schadstoffe wie Schwefeldioxid, die vor 20 Jahren eine große Rolle spielten, gibt es heute praktisch nicht mehr. Auch die Stickstoffeinträge sind drastisch zurückgegangen. Ich kann mich an Mengen von 40 Kilogramm pro Jahr und Hektar erinnern. Heute haben wir 7 oder 8.

Ist die heutige Schadstoffpolitik richtig?

Sehen Sie, die Krankheitsursachen sind nicht vorwerfbar. Der Wald leidet unter der permanenten Industrialisierung, unter der ständig steigenden Mobilität und unter Änderungen in der Waldbewirtschaftungsstrategie. Das sind sozusagen objektive ökologische und ökonomische Zwänge, die auch die Politik nicht ändern kann.

Gut, reden wir über die Zwänge.

Etwa um 1850 entstand die geregelte Forstwirtschaft. Damals aus einem Zwang heraus. Die Wälder waren ausgeraubt. Der Holzbedarf war riesengroß und wuchs mit der aufkommenden Industrialisierung noch. Weil Nadelgehölze schnell wachsen, entstanden die großen Nadelwaldbestände. Dass solche Reinbestände aber anfälliger sind als etwa Mischwald, merkte man erst später. Vom Holzlieferanten zum Erholungs- und Schutzfaktor – die Ansprüche an den Wald haben sich zudem gewandelt. Damit änderten sich aber auch die Waldbilder. Man will heute lichtere, hellere Mischwälder, nicht die dunklen Fichten- oder Kiefernforste der Vergangenheit. Das führt automatisch zu mehr Bodenvegetation. So entstand ein neuer Schadensfaktor. Die Bodenvegetation zieht Bodenflora an. Welkt das Gras im Herbst, fressen Mäuse die Rinde von Laubbäumen an. Ein anderes Beispiel: Die Wälder sind heute nicht mehr so aufgeräumt wie früher. Wir lassen im Wald viel mehr Holz liegen, an dem sich zum Beispiel potenzielle Schadorganismen entwickeln können. Sie sehen: Wald ist ein sehr komplexes System.

Was also muss getan werden, damit der Patient vom Krankenbett kommt?

So drastisch würde ich das nicht formulieren: Unsere Wälder zeichnen sich durch eine große Elastizität und Widerstandsfähigkeit aus. Sie sind immer noch recht naturnah, im Gegensatz zu allen anderen Landnutzungsformen. Aber natürlich müssen wir etwas tun. Wir brauchen erstens wesentlich mehr Waldschutz-Forschung. Es gibt zwar genügend Strategien zur naturnahen Waldbewirtschaftung. Diese Änderungen bringen aber ein neues Störungsregime mit sich. Und das kennen wir noch nicht. Es ist zudem notwendig, genügend forstfachkundige Leute zu haben, die sich mit der Pflege, Bewirtschaftung und Überwachung beschäftigen.

Gibt es zu wenig Förster?

Ich sehe zumindest die Gefahr. Wenn man sich die Pläne zum Verwaltungsumbau in den Ländern ansieht, kann einem nur angst werden.

Zusammengefasst: Der Waldzustand ist 2004 schlecht, aber es gibt Hoffnung. Was also raten Sie?

Geduld zu haben. Veränderungen am Waldzustand kann man nicht in Legislaturperioden messen, da sind 50, 70 Jahre eher realistisch. INTERVIEW: NICK REIMER