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Archiv-Artikel

Wirtschaft & Friends

Wo andere Lobbyisten sich als bloße „Berater“ der Politik geben, zielt die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft mit Hilfe von Werbung, Wissenschaft und Medien aufs kollektive Unterbewusste: Das Vertrauen in Staat und Politik soll erschüttert, das in den Markt gestärkt werden

von ULRIKE WINKELMANN

Da ist es wieder, das Deutschland, dem das Wasser bis zum Hals steht. Im „Klassiker Kompakt“-Heftchen, das der Financial Times Deutschland beiliegt, taucht dieses Foto auf. Es transportiert wie kein anderes die Botschaft der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). „Höchste Zeit für Reformen“ steht oben auf einem riesigen Plakat, darunter „DEUTSCHLAND“, provokativ in Großbuchstaben, die aber nur halb zu sehen sind – denn man hat das Plakat ins Wasser der Spree gehängt, direkt gegenüber dem Kanzleramt. Erst so erhält der Satz seine volle Bedeutung. Begriffen? Wasser bis zum Hals und so? Schlau.

Das Plakat gab es tatsächlich. Es hing das Jahr über im Berliner Regierungsviertel, genauer: am „Bundespressestrand“. Hier traf sich die Hauptstadt- und Parlamentsjournaille im Sommer mit Abgeordneten und Lobbyisten. Die hatten es aus ihren Büros auch nicht weit. Tief in Strandklappstühle gefläzt, Cocktails in der einen Hand, winkte man mit der anderen den Ausflugsschiffen auf der Spree zu, auf denen die Touristen so gerne durchs Regierungsviertel mit seinen Sichtbetonneubauten kreuzen. Eine kleine Inszenierung von verspielter, jugendlicher, aber auch souveräner, professioneller Gelassenheit. Regieren konnte so viel Spaß machen.

Regieren war in diesem Jahr aber auch so einfach. Man brauchte bloß zu sagen, dass es höchste Zeit für Reformen sei. Und schon regierte man mit – ganz unabhängig davon, welcher Partei oder welchem Unternehmen man angehörte. Wer einen einzigen Tag lang Zeitung las und Fernsehen guckte, konnte den Allparteienkonsens (minus PDS) über die notwendigen Reformen im Schlaf aufsagen. Die Arbeitsmarktreformen namens Hartz IV – nur ein erster Schritt. Die Gesundheitsreform, zwanzig Milliarden Euro schwer – ein Tropfen auf dem heißen Stein. Lohnnebenkosten müssen weiter runter (eigentlich muss das ganze Lohnniveau runter – aber das sagte kein Politiker zu laut). Die sozialstaatliche Umverteilung gehört auf ein Minimum reduziert. Unter dem Druck von Globalisierung und Demografie gilt: „Sozial ist, was Arbeit schafft.“

Im Slogan „Höchste Zeit für Reformen. DEUTSCHLAND“ waren alle Tonalitäten aufgehoben, mit denen sich politisch diskutieren ließ. „Höchste Zeit“ verriet Tatendrang, Ungestüm, einen Hauch Panik. „Zeit für“ evozierte reifliche Überlegung, sorgsame Strategie; „für Reformen“ Optimismus, feste Pläne, Gestaltungswille. In „DEUTSCHLAND“ schließlich flossen die Sorgen ums Land, ums Volk, ums große Ganze zusammen, das sich aber mit gutem Willen gemeinsam wuppen lasse.

Die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft erfindet nicht nur schlicht geniale Slogans und inszeniert diese gut. Sie gibt nicht nur die „Klassiker Kompakt“-Heftchen der Financial Times Deutschland mit heraus. Sie hat auch den „Bundespressestrand“ gesponsert. Sie veranstaltet Vorlesungen und Pressekonferenzen mit Meinungsführern aus Staat, Akademie und Kirche. Oder mit dem Fußballer Oliver Bierhoff, der auch etwas zu Reformen und Leistungsbereitschaft zu sagen hat. Sie wählt mit der Wirtschaftswoche und deren Lesern den erfolgreichsten Bürgermeister oder Ministerpräsidenten oder das dynamischste Bundesland des Jahres, was der geschmeichelten Lokal- und Regionalpresse besonders gefällt. Mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und deren Lesern wählt sie den „Blockierer des Jahres“. Und da natürlich die Beteiligten immer vollkommen unabhängig sind, gewinnt am Ende stets die CDU.

Die Initiative firmiert unter www.chancenfueralle.de, wird gelenkt von einem kleinen Unternehmen namens berolino.pr, für das wiederum die PR-Agentur Scholz & Friends arbeitet. Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall lässt sich die INSM seit 2001 rund zehn Millionen Euro (nach Angaben der berolino.pr 8,8 Millionen Euro „netto“) im Jahr kosten. Er ist sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, deshalb hat er just den Vertrag mit berolino.pr um fünf Jahre, bis 2010, verlängert.

Die INSM ist nur eine von mehreren Unternehmungen der Wirtschaftslobby, die in den vergangenen Jahren gegründet wurden, um das Vertrauen in den Staat zu schwächen und das Vertrauen in Marktgesetze zu stärken. Die zweitprominenteste derartige Veranstaltung dürfte der „Bürgerkonvent“ des Sozialstaatsdenunzianten Meinhard Miegel sein. Der schloss sich mit mehreren anderen Initiativen im Mai dieses Jahres zur „Aktionsgemeinschaft Deutschland“ zusammen – woraufhin das gesamte Gebilde von der Bildfläche verschwand. Die „Initiative D21“, eine Art Event-Kooperation der Siemens AG und der Bundesregierung, lädt ab und zu in sehr gediegenem Layout zu sehr hochrangig besetzten Tagungen ein, bleibt aber vollkommen blass.

Die INSM dagegen ist ausgesprochen präsent im Meinungsbildungsbetrieb. Es ist nicht zu klären, ob die Initiative deshalb so erfolgreich wirkt, weil sie die Themen und Thesen der Meinungsführer der Gesellschaft so gekonnt abbildet – diese aber auch getrost ohne die INSM auskämen. Oder ob die INSM realen Erfolg damit hat, ihre Thesen und Themen so zu platzieren, dass die Meinungsführer der Gesellschaft sie als ihre eigenen übernehmen. Es ist ein bisschen eine Henne-oder-Ei-Frage. Bestimmt aber ist die INSM in der Katalyse und Kondensierung öffentlicher Meinung ein ernst zu nehmender Faktor.

Es ist auch ein Verdienst der INSM, dass sich der Reformdiskurs auf die Forderung, die Lohnnebenkosten zu senken, zugespitzt hat und sich von diesem Gelenk aus ebenso leicht wieder zu einem Forderungsstrauß auffächern lässt: Eliten fördern. Zahnbehandlung privatisieren. Länger arbeiten. Und so weiter. Ein leicht handhabbares Argumentationsmaschinchen ersetzt die Auseinandersetzung mit der Eigensinnigkeit jedes Politikfelds.

Mit dem Berliner Politikwissenschaftler Rudolf Speth kann man sich beim Versuch, die Arbeitsweise der INSM zu beschreiben, auf den Begriff „ideologische Wertschöpfungskette“ einigen. Speth hat jüngst das Wirken der INSM im Auftrag der gewerkschaftseigenen Hans-Böckler-Stiftung untersucht. Er nennt die INSM einen „modernen Think-Tank“. Das Besondere an der INSM sei die Kombination von Wissenschaft, Werbung und Persönlichkeiten. Das funktioniert so: Das arbeitgebernahe Kölner Institut der deutschen Wirtschaft (IW) liefert Statistiken etwa darüber, warum die Gesundheitskosten explodieren (es steht damit in der Wissenschaft allein, aber egal).

So genannte Kuratoren und Botschafter – allesamt respektierte und talkshowtaugliche Menschen des öffentlichen Lebens – verbinden diese wissenschaftliche Expertise mit ihrer politischen oder wirtschaftlichen Autorität und verbreiten passende Argumente: Patienten sollen „Eigenverantwortung“ zeigen, also mehr für die Behandlung bezahlen. Aufwändig gestaltete Werbung durch Scholz & Friends und nicht zuletzt „Medienpartnerschaften“ mit angesehenen Zeitungen liefern die Slogans, die Bilder, die Medialität. Und am Ende wirken Zuzahlungen von Patienten wie ein Befreiungsschlag für die Nation.

Die feine Orchestrierung von Wissenschaft, Argumentation und Werbung heißt „integrierte Kommunikation“. Laut Speth hat die Agentur Scholz & Friends die INSM „erfunden“. „Scholz & Friends ist das Gehirn“, sagt er. Geschäftsführer Klaus Dittko sei nicht nur ein Werbe-, sondern als ehemaliger Redenschreiber von Exkanzler Helmut Kohl auch ein echter Politikprofi. Während das Steuerungsbüro berolino.pr in Köln nur sieben Stellen habe, arbeiteten bei Scholz & Friends vierzig Leute am Konzept der INSM.

Was die sorgfältige und stimmige Komposition von Botschaften angeht, mag Speth Recht haben: Die Agentur Scholz & Friends ist darin kaum zu übertreffen. Doch verarbeiten die jungen, kreativen Werber bloß Bausteine, die ihnen zugeliefert werden: von Tasso Enzweiler zum Beispiel, Geschäftsführer der berolino.pr in Köln. Der Mittvierziger ist ein begnadeter Selbstverkäufer, sieht gut aus, redet eindringlich-freundlich. Als Journalist machte er sich einen Namen, weil er den Skandal um die Bremer Vulkan-Werft aufdeckte, was ihm bei der Financial Times Deutschland auf den Chefreporterposten verhalf. Hier jedoch konnte er das Niveau nicht halten und war bald isoliert. Er stieg bei der INSM ein.

Über die Rolle der INSM sagt Enzweiler: „Wir sind alle in einer Kneipe, wo es dreißig Jahre lang ein Recht auf Freibier gegeben hat. Jetzt aber müssen die Leute das Bier bezahlen. Und wer sagt ihnen das? Jedenfalls nicht der Wirt – also nicht die Politiker.“ Es brauche unabhängige Geister wie die Botschafter der INSM, die den Menschen die Wahrheit sagten: dass der Staat pleite, die Sozialsysteme erschöpft seien.

Und jetzt müssten die Umverteilungssysteme des Staates auf ein leistungsfähiges Maß beschnitten werden. „Der Wohlstandskuchen ist geschrumpft, und erst wenn es uns gelingt, wieder einen größeren Kuchen zu backen, haben wir wieder etwas zu verteilen.“ Hierüber herrsche eine derartig große Einigkeit bei allen, die auch nur einen Funken Ahnung von Wirtschaft hätten, dass es geradezu lächerlich sei, überhaupt noch zu diskutieren.

Das ist genau der Punkt. Dass die Wirtschaftslobby sich schon immer darüber einig war, dass staatliche Leistungen zu großzügig seien, die Menschen mehr und länger arbeiten müssten und der Wohlstand kaum zu halten sei – das sagt sie mindestens seit Kriegsende. Es gab immer Politiker, die diese Haltung übernahmen: Der erste Appell, im Gesundheitswesen mehr „Eigenverantwortung“ einzuführen, stammt aus der mittleren Adenauer-Zeit.

Doch grundsätzlich hat die Politik sich immer als Gegenspieler der Wirtschaft verstanden: SPD wie CDU haben versucht, der Wirtschaft den Mehrwert abzuluchsen und ihn im Volk zu verteilen. Man verstand dies als Auftrag der Politik: Die Interessen der Wirtschaftskapitäne, alles erarbeitete Geld zu behalten, und der Bevölkerung, sich vom Staat Existenzsicherung organisieren zu lassen, sollten ausgeglichen werden.

Neu ist nun, dass der Konsens der Wirtschaftslobby sich über das öffentliche Leben stülpt und Widerspruch schlichtweg ausgeschlossen ist. Der Wohlstandskuchen im dritten Quartal dieses Jahres etwa sah so aus: Deutsche Unternehmen und Vermögensbesitzer fuhren die größten Gewinne seit 33 Jahren ein – in Relation zum Volkseinkommen. Die Arbeitnehmer bekamen trotzdem nicht mehr Lohn. Sondern weniger. Der Lohnanteil schrumpft. Deshalb stehen unter anderem die Rentenkassen 2005 vor der Pleite: Sie werden erstmals seit über zwanzig Jahren einen Bundeskredit brauchen – eine sozialpolitische Katastrophe. Die INSM wird sie garantiert als weiteren Beweis der Untauglichkeit des öffentlichen Rentensystems verkaufen.

Doch was in Wirklichkeit nichts mehr taugt, sind die Methoden, den Reichtum zu verteilen. Die Politik gibt dies ungern zu. Sie geriert sich, als müsse sie gemeinsam mit der Wirtschaft gegen globalisierte Märkte, den Feind irgendwo da draußen, kämpfen. Grundsätzlich alles steht zur Disposition: Rente, Kündigungsschutz, Existenzsicherung. Es geht nur noch um ein Mehr oder Weniger des Abbaus. Die INSM schmiedet mit an einem Konsens, der das Denken in Interessengegensätzen mit lautem Krachen einfach platt walzt.

Dies unterscheidet ihre Aktivitäten von denen der klassischen Lobbyisten. Das traditionelle Lobbying findet im Vorfeld einer politischen Entscheidung statt. Die Lobbys sind eine „geheime“ fünfte Macht im Staat, die den öffentlichen Protest nur ungern üben. Recht eigentlich aber will der Lobbyist im Stillen verhindern, was seinen Interessen widerstrebt, und erklärt dies im persönlichen Plausch mit Entscheidungsträgern unverblümt. Er hat in der Regel das Arbeitsplatzargument in der Hand: Wenn ihr die Pillenpreise drückt, müssen wir zehntausend Beschäftigte in der Pharmaindustrie entlassen. Der Politiker hat dann die Wahl, das nachvollziehbar zu finden – oder auch nicht.

Der persönliche Plausch ist notwendige Voraussetzung der Politik. Die INSM-Berater und -Botschafter treiben sich auf den einschlägigen Veranstaltungen herum, wo bei exzellentem Catering der Reformdisput vorangetrieben wird. In Berlin-Mitte oder West kann man jede Woche auf ein anderes Verbandsfest oder zu einem „Diskussionsabend“ gehen, wo dann im für Politiker und Journalisten so typischen Ton der Semivertrautheit eine Mischung aus Personalklatsch und Meinung ausgetauscht wird.

So beschreibt auch der Freiburger Volkswirtschaftler Bernd Raffelhüschen seinen INSM-Kontakt: „Man kennt sich ja immer schon irgendwie. Und dann habe ich mit dem Dieter Rath [der andere Geschäftsführer der INSM; Anm. U.W.] zusammengesessen und wir haben beim Bier über die Pflegeversicherung gesprochen, dass die in der Krise steckt. Der kannte meine Studie sogar schon, und dann haben wir beschlossen, was zusammen zu machen.“

Raffelhüschen gibt seither unterm INSM-Titel Pressekonferenzen, wo er vorrechnet, warum die Pflegeversicherung versage und deshalb privatisiert werden müsse. Er hat nicht das Gefühl, sich für etwas Falsches einspannen zu lassen. Seine Texte hat er immer auch an Scholz & Friends gemailt, damit die mit an „einer eher populären Version“ arbeiten, das findet er in Ordnung. Er sagt ironisch: „Ach, wissen Sie, diese Neoliberalen, diese kalten Menschen wie ich, die gibt’s überall.“

Wie erfolgreich die Initiative auch bei eher politikfremden Spezies ist, darauf weist Ulrich Müller in seinem Buch „Gesteuerte Demokratie“ hin: So gelang es der INSM, ausgerechnet den katholischen Kardinal Karl Lehmann als ersten Redner zu den „Ludwig-Erhard-Lectures“ im Juni 2002 zu gewinnen. Auf diesen Kontakt dürfte zurückzuführen sein, dass das Impulspapier der katholischen Kirche „Das Soziale neu denken“ im Dezember 2003 ausfiel wie eine Rechtfertigung für Hartz IV und Agenda 2010. Mittlerweile hat die Amtskirche gemerkt, dass sie nicht die Pressestelle der Unternehmerverbände ist. Sie fordert, bei der Umsetzung der Arbeitsmarktgesetze Milde walten zu lassen. Glaubwürdig ist das nicht mehr.

Die Pflege informeller Kontakte ist natürlich auch das Geschäft der Public-Relations- und Public-Affairs-Berater der großen Agenturen, die ihrerseits für viel Schmalz im wirtschaftsnahen Diskurs sorgen. Doch legen auch die PR- und PA-Manager offen, dass sie Politikern beim Kommunizieren helfen wollen, ihnen aber natürlich das Politikmachen – im Sinne von Positionsbestimmung – nicht abnehmen können.

Bei Agenturen wie ECC Kothes Klewes oder bei der WMP EuroCom AG arbeiten ehemalige Politiker und Chefredakteure, die zwar mit Ministern und Arbeitsamtschefs wie Florian Gerster auf Du und Du sind. Doch der Fall Gerster, der 2003 über einen Beratervertrag mit WMP stolperte, machte auch deutlich, dass die Berater nur zu beraten haben und die Politiker dann halt auch mal stürzen. Das sorgt für eine Art natürliche Distanz.

Auch Unternehmensberater, die dem Bundeskanzler nahezu auf dem Schoß sitzen, wie etwa McKinsey-Chef Jürgen Kluge oder Roland Berger, weisen sich als genau das aus, was im Titel steht: Berater. Sie stricken zwar am Reformkonsens mit, indem sie ihn in Talkshows vertreten. Wo die Macht solcher Berater jedoch endet, das machte wieder ein politisches Ereignis deutlich: Als Antwort der Union auf die Rürup-Kommission verfasste die „Herzog-Kommission“ unter Vorsitz des Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog einen eigenen sozialpolitischen Sachstandsbericht – McKinsey wurde mit dem Rechnen beauftragt. Doch nach dessen Vorlage im Herbst 2003 dauerte es nur Tage, bis die McKinsey-Zahlen von Wissenschaftlern als „nicht nachvollziehbar“ enttarnt waren. Die „Herzog-Kommission“ war desavouiert.

Was die INSM im Unterschied auch zu den McKinseys und Bergers auszeichnet, ist die beständige Regeneration von öffentlichem Vertrauen in die Wahrhaftigkeit und Qualität der Reformrhetorik. Durch den Einsatz unbescholtener Wissenschaftler oder katholischer Kardinäle, durch die Mitarbeit von Expolitikern mit dem Ruf der Integrität wie Lothar Späth oder des grünen Quertreibers Oswald Metzger wird den eigentlich immer gleichen Reformfloskeln der Glanz immer neuer Glaubwürdigkeit verliehen. Es ist die Glaubwürdigkeit derer, die das cui bono? der Politik leugnen, die keine Interessengegensätze kennen, sondern nur das, was für die ganze Gesellschaft gut ist. Es sind die ideellen Gesamtbürger, die doch nur das Beste für alle wollen.

Als Antwort auf die Okkupation des Gesamtguten durch INSM und Co fällt der SPD bislang nichts Besseres ein, als ihrerseits an die „gesamtgesellschaftliche Verantwortung“ der Wirtschaft zu appellieren. Man möge doch bitte mehr Ausbildungsplätze, mehr Arbeitsplätze für über 50-Jährige schaffen, doch auch ein bisschen Steuern zahlen. Immerhin aber haben die Sozialdemokraten mittlerweile gemerkt, dass sie beim reformrhetorischen Spiel eher verlieren als gewinnen. Aktive SPD-Politiker sind aus dem INSM-Zuarbeiter-Kränzchen ausgestiegen. Aus Opportunismus: Die Agenda 2010 ist ja auch verabschiedet. Jetzt lohnt es sich für die Kanzlertruppe, Optimismus zu verbreiten und Exportüberschüsse aufzuzählen.

Nächstes Jahr beginnt der Wahlkampf, dann werden sich die Fronten wieder sortieren: Arbeitgeber, Union und FDP hier – SPD, Grüne und Gewerkschaften dort. Die Bevölkerung kann dann wenigstens wieder zwischen zwei Sorten Stimmungsmache wählen. Doch den besondere Schmelz dieser Stimmungsmache, ihren Vokabelklang, den verdanken wir alle auch der INSM.

Wir danken der Vierteljahreszeitschrift Die Gazette für den (leicht geänderten) Vorabdruck dieses Beitrags. Heft 4 erscheint am 15. Dezember (www.gazette.de)ULRIKE WINKELMANN, 33, arbeitet derzeit im Parlamentsbüro der taz