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Archiv-Artikel

Flucht nach vorn

Jugendliche aus geschlossenem Heim in der Feuerbergstraße beklagen sich über ihre Behandlung. Träger erklärt Vorwürfe für „haltlos“, räumt aber Schwierigkeiten ein. GAL kritisiert Sicherheitsdienst

Acht Jungen bekamen Psychopharmaka, vier drohten, sich selbst zu verletzen

von Kaija Kutter

Erstmals seit Eröffnung der Geschlossenen Unterbringung (GU) in der Feuerbergstraße vor zwei Jahren gelang es Jugendlichen, ihren Unmut über die Zustände öffentlich zu beklagen. Als am Nikolaustag zwei 14- und 15-jährige Jugendliche mit einem geklauten Schlüssel aus dem Heim flohen, fanden sie Unterschlupf bei der Mutter des einen Jungen. Dort gelang es einer Reporterin, die Jungen zu interviewen.

Sie verkaufte die Interviews an mehrere Sender. Dem Vernehmen nach erklärten die beiden, dass sie in dem Heim todunglücklich sind und dort oft tagelang kaum jemand mit ihnen spricht. Der eine Junge hatte zahlreiche Schnittverletzungen an Armen und Beinen, die er sich selber zufügte, und ist inzwischen in der Jugendpsychiatrie der Uniklinik. Der zweite Junge wurde gestern noch vermisst.

Klaus-Dieter Müller, der Chef des Landesbetriebs Erziehung (LEB), trat gestern die Flucht nach vorn an und erklärte in einer spontanen Pressekonferenz die Vorwürfe für „haltlos“. Allerdings warf er bei seinen Ausführungen ein Schlaglicht auf den Alltag des Heimes, das der Öffentlichkeit vermutlich am 3. Januar bei der geplanten Zweijahres-Bilanz wieder als Erfolgsmodell verkauft wird. So hätten von den 22 Jungs, die bis heute in dem Heim waren, acht Psychopharmaka oder Beruhigungsmittel bekommen und vier mit Selbstverletzung gedroht oder sich tatsächlich verletzt. In solchen Fällen erfolge „als Erstes“ eine medizinische Versorgung. Deute etwas auf eine „suizidale Neigung“ hin, werde der Betroffene dem Psychiater vorgestellt. Anschließend würden „gefährliche Gegenstände“ aus dessen Zimmer entfernt, was dazu führen könne, „dass nur noch Bett und Matratze bleiben“. Ferner würde der Junge unter „Beobachtung“ durch den Sicherheitsdienst gestellt.

Müller schloss auch aus, dass Mitarbeiter gegenüber den Kindern gewalttätig waren. Diese würden sich aber mit „professionellen Handgriffen wehren“, wenn es zu Angriffen komme. Es könne aber sein, dass die Jugendlichen solche Situationen anders deuten. Insgesamt, so ergänzte GU-Leiter Wolfgang Weylandt, wurden seit Februar 2003 „35 mal Mitarbeiter verletzt“. In einem Fall wurde ein Junge an den Füßen mit Klettband gefesselt, weil er „total ausflippte“. Müssen als fluchtgefährdet eingestufte Kinder zum Arzt oder Amt, werden sie mit diesen Bändern an den Händen gefesselt.

GAL-Politikerin Christiane Blömeke fordert eine „lückenlose Aufklärung“ der Vorwürfe im Jugendausschuss. Sie kritisiert, dass im Umgang mit den Jungen „Repression und körperliche Dominanz“ überwiegen, weil auch am Tag der private Wachdienst eingesetzt wird. Blömeke hat über eine kleine Anfrage erfahren, dass pro Schicht meistens nur ein Pädagoge anwesend ist, der Sicherheitsdienst aber nicht nur in der Nacht, sondern auch am Tag rund zehn Stunden da ist.