Freiheit. Feigheit. Multikulti.

Scheitern und Chancen von Integration: Aydan Özoguz und Michael Neumann, Ehepaar und SPD-Bürgerschaftsabgeordnete, im taz-Streitgespräch über Kopftücher und Sibel Kekilli, Schulen und Schwimmbäder, Werte, Angebote und Sanktionen

Moderation:Sven-Michael Veit
und Eva Weikert

taz: Sie haben Multikulti für gescheitert erklärt, Herr Neumann. Gibt es bei Ihnen zu Hause Parallelgesellschaften?

Michael Neumann: Nur insoweit, als ich Schweinefleisch esse und Aydan nicht.

Aydan Özoguz: Wir beide sind kulturell unterschiedlich geprägt und haben unterschiedliche Voraussetzungen, aber privat geht das sehr gut zusammen.

Neumann: Wir haben kein Problem damit, Heilig Abend zu feiern und Ramadan auch. Meine Aussage, Multikulti sei gescheitert, bezieht sich auf eine Gesellschaft, die sich nicht umeinander kümmert und nicht miteinander diskutiert. Zwischen Aydan und mir gäbe es sicher Streit, wenn sie versuchte, unserer Tochter Hanna das Kopftuch aufzuzwingen. Tut sie aber nicht.

Özoguz: Zwingen sowieso nicht, das wäre Quatsch. Das lehne ich strikt ab, weil das Aufzwingen eines Kopftuchs keinem religiösen Verständnis entspricht.

Und wenn Hanna später mal das Kopftuch tragen wollte?

Özoguz: Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, womit ein Kind seine Eltern konfrontiert ...

Neumann: ... zum Beispiel, dass sie in die FDP eintritt. Aber im Ernst: Ich finde, Multikulti ist gescheitert in dem Sinne, dass wir weggucken und zu feige sind, für unsere eigenen Werte zu streiten. Dass man gemeinsam einen Weg finden kann, ist eine andere Frage.

Özoguz: Das kann ich so nicht akzeptieren. Ich finde allein diese Begrifflichkeiten viel zu ...

Neumann: Platt vielleicht?

Özoguz: Platt, ja. Schon diese Forderung „Integriert euch endlich“ hat etwas Diskriminierendes und Beleidigendes. Meine Generation und die nachfolgende kann das nicht mehr hören, diese Begriffe, unter denen jeder etwas anderes versteht.

Was verstehen Sie darunter?

Özoguz: Dass man die tatsächlichen Defizite behebt. Wenn an einer Schule kaum noch Deutsch gesprochen wird, ist nicht nur der hohe Ausländeranteil das Problem. Sondern der Umstand, dass die Kinder mit Migrationshintergrund aus einem bildungsfernen und sozial schwachen Elternhaus kommen können und nicht ausreichend gefördert werden. Bei uns werden die Kinder doch viel zu früh in Gewinner und Verlierer aufgeteilt. Da muss die Bereitschaft der Mehrheitsgesellschaft her, diese Menschen einzubinden statt sie auszugrenzen. So wie es ist, verlieren alle, auch die deutschen Kinder.

Mehr Angebote, weniger Sanktion und Repression?

Özoguz: Ja. Wir brauchen endlich die richtigen Angebote.

Neumann: Das ist mir jetzt zu platt. Wir müssen vor allem mal aus dem ewigen Analysieren herauskommen. Die deutsche Gesellschaft muss akzeptieren, dass endlich gehandelt werden muss und dass das Geld kostet ...

Özoguz: Wir führen manchmal eine falsche Diskussion. Etwa zu fordern, nun lerne mal Deutsch, aber in den Schulen und Volkshochschulen werden die Kurse Sprachförderung und Deutsch gestrichen. Zunächst muss die Zuwanderungsdebatte nicht mehr als exotische, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe betrachtet werden. Das heißt zum Beispiel bei den Schulen nicht zu fragen, ob Geld für „die Ausländer“ ausgegeben werden soll, sondern es sinnvoll an dieser Schule für diesen Stadtteil einzusetzen.

Eine gute Schule ist auch ein Steuerungsinstrument für eine soziale Stadtteilentwicklung. Wenn man sie schließt, ziehen die Leute weg, die es sich leisten können, und die anderen müssen bleiben. Dann gibt es irgendwann echte Probleme und nicht mehr nur muslimische Mädchen, die nicht zum Schwimmunterricht gehen.

Neumann: Das muss man aber durchsetzen.

Özoguz: Das klappt doch schon seit Jahren nicht. Dann meldet sich das Mädchen halt krank.

Neumann: Es gibt eine allgemeine Schulpflicht, und die gilt für alle. Das durchzusetzen muss der Staat bereit sein. Das ist genau dieses Wegducken, das ich vorhin ansprach. Das ist falsch verstandene Multikulturalität, das ist nicht Toleranz, sondern Angst vor der Auseinandersetzung.

Özoguz: Um ein Problem zu lösen, muss man schauen, woran es liegt. Ob es religiöses oder tradiertes Verhalten ist oder schlicht Angst der Eltern. Einfach blind fordern funktioniert doch nicht.

Neumann: Es muss ein gesellschaftlicher Grundkonsens gelten, in dessen Rahmen zu Hause alle tun können, was sie privat für richtig halten. So wie wir beide ja auch.

Özoguz: Du musst auch mal an der richtigen Stelle so etwas wie Respekt entwickeln. Von einer Nonne verlangst du auch nicht, in einem öffentlichen Schwimmbad baden zu gehen ...

Neumann: Weil das eine erwachsene Frau ist, die sich für ihren Weg entschieden hat. Wir reden hier über schulpflichtige Kinder. Und darüber, mit welchen Rollenverständnissen sie in ihren Familien aufwachsen, die zumeist sehr patriarchalisch sind. Ich bezweifle, dass es eine Freiheit der persönlichen Entwicklung gibt in einer Familie, wo es normal ist, dass Frauen Kopftücher tragen. Da lernen Kinder doch nicht die persönliche und intellektuelle Freiheit, oder nur unter Schmerzen, sich von Vorgegebenem freizumachen.

Özoguz: Das sehe ich im Prinzip genauso, wobei ich auch denke, dass jeder seinem Kind einen Weg vorgibt. Aber du willst einem Verbot mit einem Gebot begegnen. Begeisterung erntest du damit nicht.

Neumann: Aber am Ende jeder Diskussion muss eine klare Position stehen. Die muss man vor allem über positive Reize vermitteln, ist doch klar, mit Erklären und Überzeugen. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo die Regeln klar und deutlich sein müssen, im Privaten und erst recht im Öffentlichen. Bestimmte Dinge dürfen eben nicht in Frage kommen in dieser Gesellschaft.

Özoguz: Zum Beispiel?

Neumann: Zum Beispiel, dass Frauen unterdrückt und Mädchen in ihrer Entfaltung behindert werden.

Özoguz: Das ist doch völlig klar, aber nicht jedes Mädchen, das ein Kopftuch trägt, wird automatisch unterdrückt. So simpel ist es nicht.

Neumann: Sie muss die Freiheit haben, selbst zu entscheiden. Wenn sie damit aufwächst und später entscheidet, das Tuch abzulegen – oder ein Nasenpiercing zu machen –, und ihre Familie bricht deshalb mit ihr, dann ist das ein Problem. Es gibt ja ein prominentes Beispiel mit der Schauspielerin Sibel Kekilli, die von ihrer Familie verstoßen wurde. Ich kann mir ja gut vorstellen, dass ein Vater Probleme damit hat, dass seine Tochter einen Porno dreht. Aber das kann doch nicht dazu führen, dass sie geächtet werden darf.

Özoguz: Ich als Mutter hätte dieses Problem auch. Das Merkwürdige ist doch aber, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft kein Problem damit hat, wenn Frauen sich ausziehen, sondern wenn sie sich zu viel anziehen.

Neumann: Es geht um Prägung und Determinierung, die persönliche Freiheit verhindert. Da sehe ich die Gefahr.

Also müssten Nicht-Deutsche auf einen deutschen Wertekanon – was immer das sein mag – verpflichtet werden, damit sie zu Entscheidungen aus persönlicher Freiheit fähig sind?

Neumann: Jetzt müssen Sie mir mit Ironie kommen, war ja klar. Wir sind sicher auch in einer Weise geprägt, die für andere Kulturen nicht immer nachvollziehbar ist. Es geht nicht um das Alleinseligmachende. Aber ich finde, dass unser Grundgesetz im weltweiten Maßstab etwas ist, das sehr viel möglich macht und auf das man stolz sein kann.

Özoguz: Grundgesetz schön und gut, aber jeder ist geprägt, das machst du dir nicht klar. Weil ich aus einer anderen Kultur komme, habe ich gelernt, dass man andere ein Stück weit anders sein lassen muss. Die Welt wächst zusammen, und wir regen uns auf, wie Amerikaner sich verhalten, Franzosen oder Türken. Die Frage ist doch: Wie kriegen wir das zusammen und lassen Menschen zugleich unterschiedlich sein?

Neumann: Es gibt doch in unserer Gesellschaft keine Probleme für jemanden, der so aufwächst wie du oder ich und hoffentlich auch unsere Tochter. Ich kann mich entscheiden, nicht mehr katholisch sein zu wollen. Aber vor allem für muslimische Frauen gibt es diese Freiheit oft nicht, und nicht selten werden sie von ihren Männern, Vätern, Brüdern mit Gewalt gehindert.

Özoguz: Aber genau das ist doch kein muslimischer Weg. Wenn eine Frau unterdrückt oder gar geschlagen wird, hat das nichts mit Religion zu tun ...

Neumann: Ja, du hast Recht ...

Özoguz: ... sondern mit tradiertem Verhalten, das es auch in christlich-deutschen Familien gibt. Um das abzustellen brauchen wir die richtigen Ansprechpartner und Vermittler, auf die gehört wird. Wo hier ein Sozialarbeiter richtig ist ...

Neumann: ... oder die Polizei, die den prügelnden Mann aus der Wohnung weist ...

Özoguz: Ja, wenn es nicht anders geht. Aber wir brauchen auch neue Bündnispartner. Das kann auch ein Imam sein. Meine Erfahrung ist, dass oft die Angst oder Abneigung der Väter vor dieser Gesellschaft zu extremem Verhalten gegenüber ihren Töchtern führt. Und dagegen müssen wir vorgehen.

Vermissen Sie Angebote, Frau Özoguz, während Sie mehr Anpassung einfordern, Herr Neumann?

Özoguz: Ja, das unterscheidet uns.

Neumann: Es muss klar sein, dass die Zukunft in dieser Gesellschaft liegt – für die „Eingeborenen“ und die Zugewanderten. Darum müssen wir daran arbeiten, eine Gesellschaft zu werden, und auch über gemeinsame Werte reden. Wir haben in der Vergangenheit Zuwanderer vor sich hin leben lassen. Und weil Bildung der Schlüssel zur Integration ist, müssen wir uns auch fragen, was wir für die Bildung von Menschen tun können, die zu uns kommen.

Ihre Brüder, Frau Özoguz, sind ähnlich wie Sie aufgewachsen, haben aber andere Werte.

Özoguz: In meiner Familie sind auch meine Brüder eine Ausnahme. Aber die würden auch auf das Grundgesetz schwören. Daran sehe ich, wie wenig solche Dinge offenbaren, wo die echten Konflikte liegen.

Neumann: Aydans Cousins etwa sind die Punkrock-Band „Athena“. Das zeigt, was im Islam, in der Türkei und in einer Familie möglich ist, von Punkrockern bis zu Anhängern Ajatollah Chomeinis.

Soll die Mehrheitsgesellschaft diese Bandbreite einfach mal als Bereicherung annehmen?

Neumann: In jedem Fall gibt es Dinge, die ich nicht bereit bin zu akzeptieren – etwa Fundamentalisten und Extremisten jeder politischer Couleur.

Özoguz: Ich finde den Ansatz falsch. Es geht nicht mehr darum, was andere mitbringen. Viele dieser Leute sind hier geboren. Und daran, dass viele Gastarbeiter ihr Kopftuch zu Hause gelassen haben, deren Kinder hier aber wieder eines anziehen, sieht man, dass diese Dinge sich hier entwickeln. Darum stellt sich für mich nicht die Frage, ob die Mehrheitsgesellschaft das akzeptieren will. Stattdessen muss sie sich fragen, ob sie mit ihren Verhaltensweisen bewirkt, dass die Menschen einen anderen Weg wählen.