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Archiv-Artikel

„Widerstand ist produktiv“

Ein Erfolg für die Menschenrechte? Ein Gespräch mit Michael Ignatieff über seine Gründe, den Krieg im Irak zu unterstützen, die Chancen der Demokratisierung sowie die Fehler der US-Besatzungsmacht

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Ignatieff, Saddam Hussein ist verhaftet. Sonst aber gibt die Lage im Irak wenig Anlass zu Optimismus, oder?

Michael Ignatieff: Der Irakkrieg war schlecht geplant. Es gab Unstimmigkeiten zwischen dem Außenministerium und dem Pentagon und keine Verbindung zwischen der militärischen Strategie und den Plänen für die Besatzungszeit. Es ist sehr desillusionierend zu sehen, wie viele Fehler gemacht wurden.

Zum Beispiel?

Das Problem mit den USA ist, dass sie ihre Macht fast ausschließlich auf ihre militärische Seite stützten. Sie besitzen kaum zivile Agenturen, die sich der Probleme des Nation Building annehmen: das Abwassersystem reparieren, einen Stadtrat einberufen. Also übernimmt das Militär auch diese Aufgaben. Und das ist gefährlich, denn die Armee ist dafür nicht ausgebildet. Es wird viel improvisiert. Weil die politische Führung so schlechte Arbeit geleistet hat.

Sie haben den Krieg trotzdem unterstützt. Warum?

Der Grund, aus dem ich den Krieg begrüßt habe, waren die Menschenrechte im Irak. Ich habe mich gefragt: Welches Ergebnis möchte ich sehen? Und ich wollte den Sturz Saddam Husseins sehen.

Ich war 1992 im Nordirak und habe dort gesehen, was er den Kurden angetan hat. Ich hatte Zweifel, ob er wirklich über Massenvernichtungswaffen verfügt. Aber ich hatte überhaupt keine Zweifel daran, dass er in den Besitz von chemischen, biologischen und nuklearen Waffen kommen wollte. Und in Hallabscha hat man gesehen, dass er sie auch einsetzen würde.

Niemand hat bezweifelt, dass er ein blutiger Tyrann war.

Ich finde, damit wurde die eigentliche Frage heruntergespielt. Denn wenn man sich fragt, wie man so einen Tyrannen loswird, dann geht das nur unter Einsatz von US-amerikanischer Waffengewalt. Europa wollte diesem Argument nicht folgen, gut. Aber dann sollte es nicht erzählen, dass man sich dort um die Einhaltung der Menschenrechte sorgt.

Die Kriegsgegner beriefen sich auf legale Gründe.

Europa hat sich drauf versteift, weil es glaubt, dass internationales Recht und die UNO gerechter wären. Aber das ist eine fromme Fiktion. Verstehen Sie mich nicht falsch: Es gab gute Gründe gegen den Krieg. Und zwar: Er ist zu riskant. Er könnte die Region destabilisieren. Es könnte schwierig sein, dort eine Demokratie aufzubauen.

Sie werfen den Europäern mangelnde Empathie vor?

In Europa geriet der Irakkrieg zu einem Referendum über die USA. Die Tatsache, dass es auch um 26 Millionen Iraker ging, fiel dabei völlig unter den Tisch. Die Grundfrage war doch: Waren die Konsequenzen des Kriegs den Einsatz der Mittel wert? Auch wenn man bedenkt, dass die Leute, die dazu beitragen, von anderen, nicht immer ehrenwerten Motiven geleitet waren.

Sie meinen das Öl?

Ja. Aber das Argument „Kein Blut für Öl“ ist doch schlicht pubertär. Ich erzähle gerne die Geschichte, wie ich im letzten Herbst in die Berliner Schaubühne geladen war und all die Leute sah, die zu der Veranstaltung kamen. Sie fuhren alle im Mercedes, im Audi oder im BMW vor, kamen in den Saal und fragten: Wie können wir bloß allein des Öls wegen in den Krieg ziehen? Das ist doch einfach ein intellektueller Offenbarungseid!

Jeder weiß, dass eine Weltmacht wie die USA nicht auf den Rohstoff verzichten kann, der die Weltwirtschaft am Laufen hält. Natürlich geht es um Öl. Aber man kann nicht immer nur auf engelhafte Motive setzen: Alle menschlichen Motive sind gemischt. Sie werden eine Frau aus einem brennenden Haus retten, weil sie sich um ihr Schicksal sorgen. Sie tun das vielleicht auch, weil ihr Name dann in die Abendnachrichten kommt. So ist das Leben. Und ich würde sie trotzdem einen Helden nennen!

Viele Amerikaner haben den Irakkrieg in Zusammenhang mit dem 11. September gesehen, obwohl es zwischen Saddam Hussein und al-Qaida keine nachweisliche Verbindung gab.

Vielleicht nicht der landläufigen Vorstellung nach, dass sich Saddam Hussein im Café mit einem bärtigen Terroristen trifft, dem er ein böses Päckchen reicht. Aber auf eine andere Art.

Was Europa nicht versteht, ist: Die Amerikaner sind am 12. September aufgewacht und mussten feststellen, dass 16 der Attentäter, welche die Flugzeuge entführt hatten, aus Saudi-Arabien stammten. Und sie haben sich gefragt: Wir haben sechzig Jahre Arbeit in diese verdammte Tankstelle in der Wüste gesteckt, und was ist das Ergebnis?

Jeder, der dieses Szenario vor Augen hatte, musste zu dem Schluss kommen: Die Säulen, auf denen sich unsere Politik im Nahen Osten gründet, sind auf Sand gebaut. Das Saudi-Regime hat weltweit islamische Schulen finanziert, in denen jungen Menschen beigebracht wurde, wie man Amerikaner hasst. Wenn das so ist, dann müssen wir uns nach einer anderen Säule der Stabilität umsehen: nach einem demokratischen Irak. Das sind die unterschwelligen Motive, die dem Krieg zugrunde lagen. Insofern gab es tatsächlich eine Verbindung zum 11. September. Von einem amerikanischen Standpunkt aus gesehen war der Status quo im Nahen Osten nicht länger haltbar.

Ist das der Kern des Konflikts zwischen Europa und den USA?

Es war einfach eine Auseinandersetzung darüber, ob der Status quo noch tragbar war. Europa hat den Status quo verteidigt, und das mit guten Argumenten. Die Amerikaner wollten ja etwas tun, das zu gefährlich erschien.

Aber es war schon interessant, all die alten Radikalen aus den Sechzigerjahren zu sehen, die den Status quo verteidigen. Sie haben ja nichts anderes gefordert als: Lasst Saddam Hussein in Ruhe. Lasst die Saudis in Ruhe.

Als sich die USA zum Irakkrieg entschlossen, mussten sie sich auf die autokratischen Systeme in der Region stützen. Gäbe es in Ägypten oder Jordanien echte Demokratie und eine freie Presse, hätte es dort wohl kaum Unterstützung für die USA gegeben. Wie man am Beispiel der Türkei sieht.

Ja, da haben sie Recht. Ich sehe absolut keinen Grund, warum der Krieg gegen den Terror es rechtfertigen sollte, mit jedem Ekelpaket in der Region ins Bett zu steigen. Ich war im März in Usbekistan und habe dort öffentlich das Regime kritisiert. Es ist ein ekelhaftes Regime, und es ist noch schlimmer geworden, seit es eine Allianz mit den USA eingegangen ist. Warum sollte man das verleugnen?

Aber das Bild in der Region ist nicht so eindeutig. Nehmen Sie Georgien. Nach dieser Logik hätten die USA bis zum letzten Moment an Schewardnadse festhalten müssen. Offenbar haben sie sich aber gedacht, dass ein freies und demokratisches Georgien eher im langfristigen Interesse der USA liegt. Ich denke nicht, das Sicherheitsinteressen immer über die Freiheit siegen müssen.

Es gibt auch Leute, die denken, dass es keine gute Idee wäre, Demokratie in den Nahen Osten zu exportieren. Wer weiß, ob dann im Irak oder in Saudi-Arabien nicht radikale Islamisten an die Macht kämen?

Der Iran ist für die USA natürlich ein abschreckendes Beispiel. Aber zugleich befindet sich das Land derzeit im radikalen Umbruch. Ich glaube, es gibt wenige Amerikaner, die nicht sehen, dass die iranische Revolution dem Iran mehr Demokratie gebracht hat, mehr Frauen ins Parlament, ein besseres Bildungssystem und eine bessere Bevölkerungspolitik. Und inzwischen hat das Land genug von den Mullahs. Die Iraner wollen immer noch den Islam, aber jetzt eben mehr Demokratie.

Trotzdem würden westliche Liberale wie Sie es wohl bevorzugen, wenn im Irak eine säkulare Demokratie einzöge, nicht eine islamische Theokratie.

Ich denke, wir werden im Irak in den nächsten fünf Jahren eine föderale, islamische Republik haben: Die Kurden werden im Norden ihr eigenes System haben, das ironischerweise dem türkischen Modell sehr nahe kommt, sehr säkular. Die Mehrheit des Landes wird dagegen so aussehen, wie sich die Schiiten das wünschen.

Natürlich wünschen wir uns alle für den Irak eine Verfassung wie in der Türkei, schön säkular. Aber an der türkischen Variante ist auch vieles falsch. Ich hatte in Harvard eine Studentin in meiner Klasse, Merve Kavakci. Das ist die Frau, die im türkischen Parlament ihr Kopftuch trug und dafür fast verprügelt wurde. Sie sieht im türkischen Säkularismus eine Einschränkung ihrer Religionsfreiheit. Zu Recht.

Sie haben in einem Ihrer letzten Bücher davor gewarnt, Werte wie „Menschenrechte“ und „Säkularismus“ zum Fetisch zu erheben. Passiert das Ihrer Meinung nach derzeit?

Ja, wir sind sehr illiberal geworden. Und unser Universalismus kann sehr intolerant sein. Wenn man sich dieses französische Jakobinertum anschaut, wenn es darum geht, religiöse Symbole aus der Schule zu verbannen. Wozu soll das gut sein? Warum sollen muslimische Frauen kein Kopftuch tragen, wenn sie es wollen? Warum muss man Säkularismus so eng auslegen? Dieses Modell der Integration steuert geradewegs in die Katastrophe! Wir müssen unseren Begriff von Säkularismus überdenken, auch im Westen.

Ich berate verschiedene Leute, die im irakischen Regierungsrat sitzen. Als ich den Ajatollah Sustani gefragt habe, wie er sich eine zukünftige Verfassung vorstellt, hat er geantwortet: Die einzige Art und Weise, wie sie in Übereinstimmung mit dem Koran zu bringen wäre, besteht darin, alle Mitglieder des verfassunggebenden Rats durch Mehrheitswahlrecht zu bestimmen. Jefferson hätte es nicht besser sagen können!

Er hat das natürlich gesagt, weil er davon ausgeht, dass sich eine schiitische Mehrheit im Sinne des Islam ausspricht. Er hätte aber auch sagen können: Lasst mich das machen, denn ich habe eine persönliche Telefonleitung zum Propheten. Er hat aber gesagt: Fragt das Volk.

Ist die Situation im Irak nicht paradox? Es gibt eine Tradition des säkularen Nationalismus. Aber genau den haben die USA in Gestalt der Baath-Partei ja bekämpft. Wie sollen sie ihn jetzt zum Nation Building nutzen?

Ich sehe den friedlichen Widerstand gegen die Besatzung als etwas Positives. Denn man kann Nation Building nicht ohne Patriotismus betreiben. Manches an der Feindseligkeit gegen die USA ist ja auch sehr produktiv. Es ist nicht wie in Bosnien oder im Kosovo, wo die Leute sagen: Sollen doch diese internationalen Streitkräfte für immer hier stationiert bleiben. Die Iraker sagen: Es ist demütigend, unter Besatzung zu leben. Und solange sie nicht auf die Amerikaner schießen, treiben sie den Prozess zur Eigenständigkeit voran.