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Archiv-Artikel

Skandale ohne Folgen

AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK

Vor einem halben Jahr schockierten die Bilder aus Abu Ghraib die Weltöffentlichkeit. Sie rüttelten auch am amerikanischen Selbstverständnis. Eine entsetzte Nation sprach von „Schande“ und „Albtraum“. Seither vergeht kaum eine Woche, ohne dass neue Enthüllungen über Folter und Misshandlungen in US-Gefängnissen, über das Wissen darum in den Büros des Pentagons oder auch neue Fotos veröffentlicht werden.

Ende November tauchten Bilder im Internet auf, die ein Marineinfanterist aus dem Irak mitbrachte. Sie zeigen Soldaten, die auf zusammengeschnürten Gefangenen sitzen und eine Pistole auf den blutenden Kopf eines Mannes richten. Andere zeigen grinsende Soldaten, die auf vermummten Häftlingen sitzen. Die Fotos wurden im Mai 2003 aufgenommen, Monate bevor die Misshandlungen in Abu Ghraib stattfanden.

Die Liste anderer neuer Folterdetails ist lang: Soldaten einer Spezialeinheit quälen irakische Häftlinge mit elektrischen Betäubungsgewehren. Eine Verhörspezialistin greift im Internierungslager von Guantánamo auf Kuba einem Gefangenen in die Genitalien. Häftlinge kommen mit Brandwunden von Verhören zurück. Andere werden geschlagen, bis sie medizinisch versorgt werden müssen, oder von Hunden eingeschüchtert. Manche werden mit Handschellen an Gitterstäbe gefesselt und bekommen einen Nylonsack über den Kopf gestülpt. Die Fenster von Verhörzellen werden zugeklebt, sodass anwesende FBI-Ermittler Befragungen nicht direkt beobachten können. So genannte Geistergefangene werden im Irak vor Vertretern des Internationalen Roten Kreuzes versteckt.

Diese Beispiele stammen aus 43 regierungsinternen Dokumenten, die die American Civil Liberty Union (ACLU) am Mittwoch veröffentlichte. Sie belegen die Misshandlung von Gefangenen im Irak, in Afghanistan und Guantánamo. Sie dokumentieren ferner, wie geheime US-Spezialkommandos brutale und nicht genehmigte Verhörmethoden anwendeten. Sie zeigen aber auch, dass sich der Chef des militärischen Geheimdienstes und hochrangige Mitarbeiter der Bundespolizei FBI frühzeitig beim Pentagon über die Misshandlung von Häftlingen beschwerten. Die Menschenrechtsorganisation erwirkte per Gerichtsbeschluss, diese Unterlagen einsehen zu dürfen – gegen den Widerstand der US-Regierung.

Auch das Rote Kreuz informierte das US-Militär im Juni über die „folterähnliche“ Behandlung von Häftlingen in Guantánamo. Nach Angaben der New York Times leitete eine Inspektorengruppe der Hilfsorganisation vertrauliche Stellungnahmen an das Pentagon weiter, die von psychischen und physischen Verhörpraktiken berichteten, die „gleichbedeutend mit Folter sind“. Nach letzten Erkenntnissen wurden mehr als 100 Häftlinge in US-Militärgefängnissen gefoltert, über 20 starben.

Die kollektive Empörung darüber hat sich offenbar im vergangenen Sommer verbraucht. Allenfalls Kommentatoren großer Tageszeitungen schreiben noch verbittert gegen die Skandale an. Die US-Regierung hingegen beharrt darauf, dass es sich lediglich um das Fehlverhalten irregeleiteter einzelner Personen handele, das in rauen Kriegssituationen nun einmal vorkomme. Sie verweist zudem darauf, dass den beteiligten Soldaten, die überführt wurden, zügig der Prozess gemacht wurde. Doch daran, dass sie ihre umstrittene Politik im Umgang mit Gefangenen für richtig hält, lässt sie keinen Zweifel.

So wundert es auch nicht, dass kein höherer Offizier bisher ein Fehlverhalten eingeräumt hat oder die gewaltsamen Verhörmethoden hinterfragte. Niemand wurde vom Kongress zur Verantwortung gezogen. Eine parlamentarische Untersuchung darüber, wie die Verhörtechniken entwickelt und umgesetzt wurden, bleibt unter Verschluss. Nichts geändert hat sich auch an bestehenden Regelungen, die erst die Atmosphäre für die Misshandlungen geschaffen haben: Stellungnahmen von Präsident Bushs Rechtsberater und baldigem Justizminister Alberto Gonzales, dass Gewaltanwendung, solange sie keine bleibenden Organschäden oder den Tod hervorruft, nicht als Folter definiert werden kann und die Bestimmungen der Genfer Gefangenenkonvention für Amerikas Krieg gegen den Terror hinfällig sind.

Zwar ist es unwahrscheinlich, dass es je direkte Anweisungen von der Militärspitze zur Folter gegeben hat. Doch führen viele Spuren zu den Schreibtischen in Washington. Ein FBI-Mitarbeiter zitierte den ehemaligen Leiter des Lagers von Guantánamo, General Geoffrey Miller, dass die „Quelle“ für die vom FBI als illegal erachteten Methoden Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sei. Das Rote Kreuz spricht von einem System, das darauf angelegt sei, den Willen der Gefangenen zu brechen. Und eine jüngst an die Presse durchgesickerte Untersuchung des Pentagons über Militärgefängnisse in Afghanistan, die nach dem Skandal von Abu Ghraib eingeleitet wurde, kommt zu dem Schluss, dass unpräzise Richtlinien für die Behandlung und Befragung von Häftlingen immer noch zu Misshandlungen einladen würden.

„Die Exzesse sind keine isolierten Handlungen brutaler Gefängnisaufseher. Sie sind Teil gängiger Methoden, entwickelt für die Verhöre in Guantánamo und von Rumsfeld im April 2003 genehmigt,“ resümiert die Washington Post. Jedem müsse klar sein, dass Bush diese systematische Verletzung von Menschenrechten und amerikanischen Werten fortsetzen werde. Sein Wahlsieg erlaube ihm nicht nur, ungeschoren davonzukommen, sondern auch, sich gerechtfertigt zu fühlen, schreibt Naomi Klein im Magazin The Nation. „Die Botschaft vom 2. November ist klar: Die Regierung wird für ihre skandalöse Politik nicht bezahlen müssen.“