: Der Hammer-Kapitalist
Erst kam er mit dem Tannenbaumweihnachtstopf Nr. 1, dann, als überall schon Vollbesinnung angesagt war, mit weiteren Ideen. Mein Vater als Geschäftsmann – eine Weihnachtsgeschichte
von WLADIMIR KAMINER
Während seines Arbeitslebens blieb mein Vater dem Geschäftemachen fern. Bei uns gehörte früher alles dem Staat. Das hielt die Leute natürlich nicht davon ab, sich so stark mit dem staatlichen Eigentum zu identifizieren, dass sie es von ihren Arbeitsplätzen mit nach Hause nahmen und so das staatliche in Privateigentum verwandelten. Ein Freund meines Vaters arbeitete zum Beispiel in einer Fabrik, die Kämme produzierte – er hatte tausende davon zu Hause. Zu jedem Feiertag oder Geburtstag bekamen seine Freunde dutzende von Kämmen geschenkt, er selbst kämmte sich damit letztendlich eine Glatze.
Ein anderer Bekannter meines Vaters arbeitete in einem Betrieb, in dem Kinderwagen zusammengeschraubt wurden. Ob beim Einkaufen oder bei der Rückgabe leerer Flaschen – er ging nie ohne einen Kinderwagen aus dem Haus. Mein Vater aber war in seinen geschäftlichen Tätigkeiten behindert. Sein Betrieb, in dem er das halbe Leben verbrachte, produzierte aufklappbare Pontonbrücken zur Überwindung kleiner Flüsse. Sie waren für die sowjetische Landwirtschaft von großer Bedeutung: Wenn irgendwo während der Ernte zwei Panzer dringend über ein Flüsschen mussten, kamen die Klappbrücken meines Vaters zum Einsatz, sie wurden auf einem Lkw dorthin transportiert und erst aus- und dann wieder eingerollt, so schnell, dass die feindlichen Agrarier nur noch staunten, wenn plötzlich die zwei Panzer direkt vor ihrer Nase auftauchten. Diese Pontons ließen sich aber kaum in Privateigentum verwandeln. Sie passten überhaupt nicht in unsere Wohnung.
Kleinere Einzelteile versuchte mein Vater dennoch immer wieder in den Haushalt zu integrieren, womit er aber mehr Schaden als Nutzen anrichtete. Zuletzt fand mein Vater sich damit ab, er sprach so gut wie nie von irgendwelchen Geschäften – der Kapitalist in ihm schien für immer ausgelöscht zu sein. Erst als er in Rente ging, nach Berlin übersiedelte und auf einmal viel Freizeit hatte, entwickelte er kapitalistische Tendenzen, wie wir es nie für möglich gehalten hätten.
Plötzlich fing er wie verrückt an, täglich neue spektakuläre Geschäftsideen auszuspucken, laufend wollte er neue Produkte auf den Markt werfen, Profite erzielen und mit diesen Profiten dann noch mehr neue Produkte auf den Markt werfen. Mit meiner Mutter sprach er nur noch von Ich-AGs. „Hat Papa etwa das falsche Programm im Fernsehen geguckt?“, fragte ich sie. „Irgendwelche Wirtschaftsmagazine auf n-tv?“ – „Nein, eigentlich guckt er nur Sport“, meinte meine Mutter, „ich weiß auch nicht, was in ihn gefahren ist.“ Mein Vater ging in die großen Kaufhäuser, fand sofort Marktlücken und notierte sie. Zu Hause überlegte er dann, wie er aus eigener Kraft diese Lücken schließen könnte. Seine erste Idee überraschte uns alle. Es war ein Tannenbaumweihnachtstopf. „Es geht doch nicht an“, erklärte mein Vater dazu, „dass die Leute sich für teures Geld einen Tannenbaum besorgen, nur um ihn in zwei Wochen wieder auf die Straße zu schmeißen. Wenn man einen Holzkasten von der entsprechenden Größe erwerben könnte, in dem sich die Tanne bis zum nächsten Weihnachtsfest wohl fühlt, dann würden die Leute dafür Schlange stehen. Mit meinem Weihnachtstannenbaumtopf bekommen sie die Möglichkeit, ihren Tannenbaum richtig in der Wohnung einzupflanzen und das ganze Jahr über eine frohe weihnachtliche Stimmung zu haben.
Mein Vater beschloss, sofort mit der Anfertigung der ersten Prototypen zu beginnen, Weihnachten stand bereits vor der Tür. Er baute den Keller zur einer kleinen Hobbytischlerei um und kaufte haufenweise Holz und Werkzeug im Baumarkt. Im November sah man ihn kaum noch in der Wohnung, man hörte ihn nur im Keller arbeiten – und schimpfen. Die Fotos von seinen Erzeugnissen sollten auf Kinderspielplätzen aufgehängt werden, mein Vater war der Meinung, dass die Kinder auf seine Produkte besonderes scharf wären.
„Ein Tannenbaum in der Wohnung – das ganze Jahr über? Dann werde ich vielleicht auch jeden Tag aufs Neue Geschenke bekommen.“ So würden die Kinder denken und ihre Eltern dazu bringen, die Weihnachtstöpfe meines Vaters zu kaufen, dachte er. Ich sollte mir für diese Fotos schon mal einen lustigen Werbespruch ausdenken. Den halben Tag verbrachte ich damit, etwas Passendes für die Produkte meines Vaters zu entwickeln, doch mir reichte es schon, das Wort „Tannenbaumweihnachtstopf“ zu Papier zu bringen – schon brach ich in Tränen aus. Vor Lachen. Eigentlich ist mit diesem einen Wort bereits alles gesagt, dachte ich und ergänzte es mit „preiswert“.
Dazu schrieb ich noch seine Telefonnummer auf und fertig war die Annonce. Mein Vater machte inzwischen Werbung auf eigene Faust. Er stellte den fertigen Topf im Hinterhof des Hauses auf, um die Nachbarn zu beeindrucken. Damit keine Missverständnisse entstanden, schrieb er mit gelber Farbe „Tannenbaumweihnachtstopf Nr. 1“ drauf. Die Zahl sollte bei den Nachbarn den Eindruck erwecken, er habe noch viel mehr davon auf Lager. Doch die Nachbarn meines Vaters schienen allesamt Analphabeten zu sein, sie hielten seine Erfindung für einen neuen Mülleimer, extra vom Weihnachtsmann dort abgestellt – über Nacht war der Tannenbaumweihnachtstopf Nr. 1 voll. Auch vom Kinderspielplatz rief keiner an.
Meinem Vater dämmerte langsam, dass er möglicherweise etwas erfunden hatte, das nicht jeder haben wollte. Er gab aber nicht auf. In der kostenlosen Bezirkszeitung las er, dass in Pankow eine Werkstatt errichtet worden war, in der ältere Menschen Starenkästen bauen konnten. Danach betrachtete er sein Erzeugnis noch einmal etwas genauer, kippte es um und stellte fest, dass es eigentlich ein Starenkasten war – nur eben für extrem große Vögel. Für Strauße zum Beispiel.
Er bat mich sofort, bei der Rentnerwerkstatt anzurufen und denen zu sagen, sie bräuchten keine Starenkästen mehr zu bauen, er würde ihnen jederzeit welche zu einem angemessenen Preis liefern können. Ich weigerte mich. „Diese Menschen wollen die Starenkästen bauen, weil sie sich langweilen und nichts zu tun haben, es sind keine Geschäftsmänner so wie du!“, versuchte ich ihn aufzuklären. „Sie machen sich mit ihrer Arbeit eine Freude fürs Leben.“ – „Dann sind sie einfach verrückt!“, entgegnete mein Vater. „Das Leben ist doch unwichtig, wichtig sind nur geschäftliche Erfolge!“ Ich schüttelte den Kopf und überlegte leise, ob mir mit siebzig vielleicht auch so eine Vollmeise drohen würde. Mitte Dezember, als im ganzen Land Vollbesinnung angesagt war, meldete sich mein Vater wieder bei mir – mit einer neuen Geschäftsidee. Er hatte anscheinend seine erste wirtschaftliche Niederlage gut verkraftet. „Die Kästen und Töpfe sind Schnee von gestern!“, verkündete er strahlend.
„Ich habe mir etwas viel Clevereres ausgedacht. Wir machen also Folgendes. Ich schreibe dir jetzt hundert Briefe mit klugen Ratschlägen fürs Leben und werde so tun, als ob ich sie dir schon immer geschickt hätte – seit dreißig Jahren bereits. Und du veröffentlichst sie nach meinem Tod bei deinem Verlag unter dem Titel ‚Die Briefe meines Vaters‘. Das wird bestimmt ein großer Erfolg! Die Gage dafür teilen wir dann: Zwei Drittel bekomme ich.“ – „Aber Papa, wozu brauchst du zwei Drittel, wenn du schon tot bist – ein Drittel reicht da doch auch?“, erwiderte ich. „Mann, Sohn, bist du blöd! Ich würde doch nur so tun, als ob ich gestorben wäre, verstehst du? In Wirklichkeit werde ich höchst lebendig in Dingsda – Teneriffa, Lanzarote oder wie sie alle heißen … na dort irgendwo weitermachen!“
Ich stellte mir vor, wir mein Vater auf Lanzarote weitermachte, in seiner Tischleruniform, die er nicht mehr ablegte, mit dem Hammer in der einen Hand und einer Säge in der anderen. Er wird dort Palmenblumentöpfe bauen, neue Bananensammelmaschinen entwickeln, alle Vulkane zubetonieren.