: Delirierende Monde
Halb Wissenschaft, halb bunter Traum: „Borg“, Inga Svala Thorsdottirs irre Utopie, in der Kunsthalle
Statistisch kommen nur 2,6 Einwohner auf jeden der 103.020 Quadratkilometer der Insel, aber die Musik-, Film- und Buchproduktion ist in Relation zu den etwa 280.000 Einwohnern eine der produktivsten der Welt. Das liegt vielleicht daran, dass auf Island offiziell akzeptiert wird, dass mancherorts Elfen leben. Eine davon ist Björk – aber das ist ein anderes Thema.
In der Ausstellung „Borg“, die die in Hamburg lebende Isländerin Inga Svala Thorsdottir derzeit in der Kunsthallen-Reihe „Standpunkt“ präsentiert, geht es um die Neugründung einer Millionenstadt in der Tundra. Seit langem befasst sich die Künstlerin mit diesem Projekt: mal in stadtplanerischen Dimensionen, mal in der Erfindung neuer sozialer Regeln, mal in der Wiederbelebung alten Brauchtums. Aber auch an eher wissenschaftlich bestimmtem Design arbeitet die 38-Jährige, die eine Spiraltreppe nach dem Vorbild von Basaltsäulen oder, zusammen mit Gehirnforschern, eine Geistesblitz-Maschine entwickelt hat.
„Borg“ soll die neue Superstadt also heißen, außerhalb Islands sichtbar gemacht durch Video, Foto, Zeichnung, Objekt und Geschichte. „Borg“ ist der Traum des Einödbauern von der Metropole. „Borg“ ist andererseits auch der aus den Großstädten in die weite nordische Landschaft zurückgedachte Traum einer freien Lebensform unter arktisch blauem Himmel.
In einer dreizehnteiligen Wandarbeit hat Inga Svala Thorsdottir für alle Vollmondtage des Jahreszyklus in dem Gebiet der zukünftigen Stadt die exakte Verteilung von Sonnen- und Mondlicht in ein Rasterschema gebracht. Was wie konkrete Kunst der Siebziger wirkt, ist in Wahrheit ein astronomisch präziser Kalender. Auch die delirierend verschlungenen Zeichnungen im anderen Raum sind wissenschaftlicher, als es scheint: Im Verweis auf Neurotransmitter wie GABA und Dopamin nähern sie sich dem Forschungsstand der Neurochemie zur Frage der Glücksmomente an.
In der schönen neuen Welt der Inga Svala Thorsdottir wird so eine Wahrnehmung gelebt, in der nicht nur Nervenbahnen, sondern auch Vogelflug und Wolken als Landkarten gelesen werden können. In jener Innen und Außen, Mikrostrukturen und Großprojekte umfassenden Phantasie ist „Borg“ somit eine jener Formen intelligenten Irrsinns, die die Kunst so bedenkenswert machen. Hajo Schiff
Di–So 10–18; Do bis 20 Uhr, Kunsthalle; bis 2.1.2005