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Archiv-Artikel

Vorstellung vom ewigen Frieden

VON MICHAEL RUTSCHKY

Es werde, pflegte der alte Max Horkheimer leicht schwäbelnd zu dozieren, viel zu viel hergemacht vom Unterschied zwischen Menschen und Tieren. Das habe ich mir gemerkt. Dass wir lachen und weinen können, dass wir aufrecht gehen und eine syntaktisch ausgearbeitete Sprache verwenden: okay. Aber daraus sollte man keinen allzu großen narzisstischen Gewinn ziehen wollen.

Dies war es nämlich, was Horkheimer witterte – anthropologischen Hochmut. Und so beschäftigt man sich gern damit, die Differenzen zu verkleinern. Nehmen wir Teddy – nein, nicht Adorno, sondern den schwarzen Langhaardackel, den meine Mutter lange 16 Jahre hielt. Kam man die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, wurde man nicht nur mit den bekannten Hundegesten begrüßt, insbesondere Schwanzwedeln. Dazu fletschte Teddy auch noch die Zähne. Er arbeitete an einem freudigen Lächeln und drang so in die menschliche Mimik vor.

Überhaupt, die Haustiere. Wer welche hält, den beschäftigen weit inniger als die Differenzen ihre Ähnlichkeiten mit den Menschen. Denn das ermöglicht ja die Kommunikation: dass Hunde und Katzen ihre Namen erkennen und reagieren, wenn man sie ruft; dass Hühner die Locklaute beantworten, mit denen man ihnen das Futter ankündigt. Wer Rinder oder Schweine oder Pferde hält, berichtet Entsprechendes. Auch das Zoopersonal, das den Tieren gern Zärtlichkeiten zukommen lässt.

Wenn man das als Zoobesucher beobachtet, entsteht Neid. Einer Seekuh oder einem Schimpansen freundlich übers Fell zu streichen, danach verlangt eine ganz eigentümliche Sehnsucht, die Kinder richtig beuteln kann. Man erkennt den Paradiesmythos am Werk: Wenn Mensch und Tier einander friedlich, gar freundlich berühren können, dann ist alles, alles gut, dann herrscht der ewige Frieden. Auch ungleiche Haustiere stimulieren diese Paradiesvorstellung: Wer einen Hund und eine Katze in sehr jungem Alter erwirbt, wird sie sich in Spiele verwickeln sehen, denen der Mensch stundenlang entzückt zuschauen kann.

Nach den Vorgaben der Frankfurter Schule ist es eine Art Heimweh, das beim Anblick der Tiere entsteht. Es fiel dem Menschen sehr schwer, es kostet ihn immer noch Anstrengung, aus der Tierreihe herauszutreten. Als Kind durfte ich mich zuweilen in einen kleinen, mit Heu ausgepolsterten Viehstall legen, den eine Hündin mit ihren Welpen teilte; sie nahm auch den menschlichen Welpen gern auf. So kamen mir Grundgedanken der Frankfurter Schule schon früh nahe. Ich denke, dass Zoos, auch Fernreisen zu den Tieren Afrikas oder Asiens, dieses Heimweh ebenso erregen wie stillen. An Kindern kann man es schön sehen, wie gesagt, wie liebend gern sie mit den Aliens hinter den Gittern Kontakt aufnehmen würden.

Man darf das alles für romantisierenden Unfug halten. In jedem Fall setzt es voraus, dass die Menschensiedlungen vor Tierangriffen absolut sicher und die Schrecken der Nahrungsketten für die Menschen auf immer unterbrochen sind. Der Mensch soll als Beute außerordentlich nahrhaft sein. Das Problem ist bloß, dass er wegen seiner Intelligenz so schwer zu fangen ist. Die Jagd kostet mehr Kraft, als die Beute einbringt. (Deshalb lohnt sich auch für den Menschen die Menschenfresserei nicht.)

Freilich führen auch diese Gedanken zum Paradiesmythos. Der Tiger, in dessen schönes Fell du dich betten darfst, wäre die ehemalige Lebensgefahr, die jetzt nicht mehr droht; das freundliche Raubtier bedeutet den ewigen Frieden. Wobei, wie ich aus meiner Hundeerfahrung verraten muss, vom Tierfell überhaupt ein besonderer, vielleicht fetischistischer Reiz ausgeht. Ohne Bekleidung wirkt der Mensch, sofern er hübsch und jung ist, zwar attraktiv, aber auch verletzbar und gefährdet. Der Hund oder Tiger mit seinem Fell dagegen: immer schon perfekt. Im Paradies soll ja ein solches Klima herrschen, dass den Menschen seine Nacktheit nicht benachteiligt, ein umsichtiger, wenn auch ein wenig ausgeklügelter Gedanke. Meine Freundin Jutta hat sich jetzt beim Trödler einen Pelzmantel gekauft – das Gefühl von Wärme und Schutz, das er schenkt, sagt sie, ist geradezu überirdisch.

Wir müssen noch einmal zu den Nahrungsketten zurück, in die wir früher als Beute, jetzt vor allem als Esser eingebunden sind. Unser Gebiss, sagen die Biologen, lässt keinen Zweifel daran, dass wir Alles-, also auch Fleischfresser sind (wie die Bären, die in Kanada die Abfalleimer plündern und sich zur Domestikation anbieten – bald gibt’s das Foto vom nackten Baby auf dem Fell eines lebenden Bären).

Dass wir das Fleisch von Tieren essen, ist gerade in unseren Kreisen seit langem ein heißes Thema ideologischer Kämpfe. Aber nicht nur dort: Werbespots inszenieren Pasta mit Kräutern oder Gemüsen als wahre Paradiesnahrung. Immer wieder erklärt Alfred Biolek seinen Kochgästen, dass er jetzt viel, viel weniger Fleisch verzehre als früher. BSE wirkte wie ein magischer Gegenzug nach dem Talionsprinzip: „Die Natur schlägt zurück“, jetzt fressen die gefressenen Rinder unsere Gehirne auf.

Dass der Mensch Fleischfresser ist, gewiss bindet ihn das am engsten an die Tierwelt, in der viele Arten Fleisch fressen. Gerade in dieser Hinsicht hätten wir es also nie richtig geschafft, aus der Tierreihe hinauszutreten; dass wir diese Nahrungsmittel züchten und von Spezialisten schlachten und aufbereiten lassen, dass es Bibliotheken von Kochrezepten gibt, die das tote Tierfleisch bis zur Unkenntlichkeit zu verwandeln erlauben – schon ein Wiener Schnitzel schmeckt eher wie Gebäck –, das ändert daran nichts. Als Esser können wir uns Heimweh nach der Tierwelt ersparen; wir gehören zu ihr.

Die Auseinandersetzungen um Vegetarismus (und Tierversuche, Tierschutz) belegen, dass Claude Lévi-Strauss Beobachtung zutrifft: Die Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft bleibt in einer jeden prekär und umkämpft. Man kann auch eine andere Perspektive wählen: Von den beiden Grundbegriffen der Aufklärung, die die moderne Welt stiften, Vernunft und Natur, erntet die Vernunft nur noch Misstrauen und Verachtung, von der Schulmedizin bis zur Gentechnologie. Natur dagegen, unberührte möglichst, wurde ein Gegenstand fetischistischer Verhimmelung.

Michael Rutschky, 60, ist Publizist und lebt in Berlin