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Archiv-Artikel

nebensachen aus peking Chinesische Befindlichkeiten: Rückblick mit Kanzlerbesuch und Rockkonzert

Es war eine Woche, in der aus Deutschland Bundeskanzler Gerhard Schröder in Peking zu Besuch war und in Tokio neue Verteidigungsrichtlinien verabschiedet wurden, die von der Möglichkeit eines Krieges zwischen Japan und China ausgehen. Es war eine Woche, in der das Tempo der chinesischen Entwicklung wieder mal alle Beteiligten überforderte. Wer konnte dem Kanzler widersprechen, dass Wandel durch Handel nicht die beste Chance sei, die China habe? Aber wer konnte glauben, dass irgendjemand den Wandel lenke und kontrolliere? Kann der Wandel nicht sogar geradewegs, wie vor hundert Jahren Japan, diesmal China in den Krieg führen? Sind die japanischen Befürchtungen nicht allzu gerechtfertigt?

In solch einer Woche traf es sich gut, dass Cui Jian wieder mal in Peking ein Konzert gab. Einmal im Jahr, nicht öfter, zeigt sich Chinas bekanntester Rockmusiker auf einer Bühne der Hauptstadt. Am Freitag spielte er in einer Bar, die vielleicht dreihundert Leute fasste. Wie bei jedem seiner Konzerte quetschte sich einer an den anderen. Man fühlte sich geborgen unter Gleichgesinnten, egal ob Jung oder Alt – ein seltenes Gefühl in China. Dann legte Cui los und wir sangen mit, als wäre immer noch alles möglich. Als sei China immer noch ein Land, dessen Schicksal man selbst bestimmen könnte.

Vor 20 Jahren fing Cui einmal an zu rocken. Um das Jahr 1986 ließen ihn die Behörden eher zufällig vor einem randvollen Pekinger Arbeiterstadion auftreten. Plötzlich kannte jeder seinen Namen und sein bis heute wichtigstes Lied: „Wir haben nichts“. Am Freitag sang er es wieder. Die Bar bebte.

So war das auch früher, als er in den Tagen und Nächten der Studentenrevolte im Frühjahr vor 15 Jahren mit seinen Liedern durch Peking tingelte und den Reim der Rebellion im Volk verbreitete. „Wir haben nichts“. Das bedeutete: Wir haben mit den Kommunisten abgeschlossen. Wir fangen noch einmal von vorne an. Wir haben nichts zu verlieren. Also gehen wir auf die Straße und stellen unsere Forderungen. Cuis Lied war im Frühjahr 1989 die Marseillaise der Volksrepublik und das wird immer so sein. Das Lied der Freiheit erfindet kein Volk zweimal.

Nun soll das Lied im Fernsehen gespielt werden. Erstmals wurde am Freitag ein Cui-Jian-Konzert vom chinesischen Staatssender CCTV aufgezeichnet. Man sah ständig die Kameraleute vor der Bühne hin- und herrennen. Cui war einverstanden, weil er für die Rockmusik in China anders keine Überlebenschance sah. Es ginge eben nicht ohne kommerziellen Erfolg. Aber dann stand er da oben auf der Bühne und sagte: „Solange ihr mitmacht, wird der Rock ’n’ Roll in China nicht sterben.“ Das konnte man natürlich auch politisch verstehen und Rock ’n’ Roll in Gedanken durch Freiheit oder Demokratie ersetzen.

Doch darum scheint es heute niemand mehr zu gehen, und man denkt manchmal, es liegt gar nicht daran, dass die KP-Diktatur in China noch so stark und mächtig ist, sondern dass die Entwicklung so schnell geht. Wandel durch Handel, das klingt so gemächlich. In Wirklichkeit ist der Handel ein reißender Fluss.

Ob der Kanzler nun Waffen an China verkaufen will und Japan neue Waffen kauft, um China abzuschrecken – es bleibt keine Zeit, an die Folgen zu denken. Auch nicht daran, was folgt, wenn Cui nun auf CCTV singt. Die Marsaillaise im kommunistischen TV-Programm – wenn für die einen alles möglich ist, ist es für die anderen zu spät. GEORG BLUME