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Archiv-Artikel

Die Wiege der Stadtethnologie

In den 1920er-Jahren entwickelte sich in den USA eine neue Freizeitbeschäftigung, das „Slumming“. Brave amerikanische Bürger unternahmen – mitunter organisierte – Ausflüge in die heruntergekommenen Viertel der Großstadt auf der Suche nach Nervenkitzel und Exotik. Dieses neue Hobby war der unmittelbarste Ausdruck einer allgemeinen Neugier am Glanz und Elend der Großstädte. Bald erreichte diese Faszination auch die Wissenschaft.

„Go into the district“, „Get the feeling“, „Become acquainted with the people“: Mit diesen Anweisungen schickte der Soziologe Robert Ezra Park seine Studenten auf die Straßen von Chicago. Der ehemalige Lokalreporter mit Lehrstuhl am Department of Sociology and Antropology der Universität von Chicago liebte das „Nosing around“, das Herumbummeln und Herumschnüffeln. Vor allem wollte er seinen Studenten vermitteln, wieder mit ihren eigenen Augen zu sehen. Er verglich das Vorgehen des Großstadtsoziologen mit den geduldigen Beobachtungsmethoden der Ethnologen bei der Untersuchung primitiver Kulturen.

Damit verstand er sich in der Tradition von Ethnologen wie Radcliff-Brown und Bronislaw Malinowski, der als erster Ethnologe die Methode der teilnehmenden Beobachtung etabliert hatte. Für seine Monografie über die Bewohner der Trobriand-Inseln in Neuguinea lebte Malinowski drei Jahre mit und unter den Eingeborenen. Genauso tauchten nun die Mitglieder der „Chicago School“ nun in die Milieus von Stadtstreichern, Kleinkriminellen und Jugendbanden ein und besuchten Migrantenviertel, Ghettos und den Rotlichtbezirk.

Einer der Schüler Parks war Nels Anderson. Mit seiner Studie über die amerikanischen Wanderarbeiter – Titel: „The Hobo“ – begründete er 1923 das Bild des „Hobo“ als freiwilligen Exilant der bürgerlichen Gesellschaft. In einer zeitgenössischen Werbeanzeige für sein Buch hieß es: „Nels Anderson, who has tramped with him, eaten his handouts, worked with him, loafed with him ‚on the stem‘, and slept in his ‚jungles‘, will tell you about him.“

Paul C. Gresser trieb sich 1932 in den sogenannten „Taxi-Dance Halls“ herum, in denen sich Männer für ein ticket-a-dance weibliche Begleitung sicherten. In „The Taxi-Dance Hall“ beschreibt er nicht nur den Alltag im Rotlichtbezirk, sondern lässt auch Tänzerinnen und Kunden in unverfälschtem Slang zu Wort kommen. Im Glossar finden sich Begriffe wie smoker für Afroamerikaner und nickel hopper für Tänzerin.

Weitere berühmte Ethnografien waren Louis Wirths „The Ghetto“, Frederic Trashers „The Gang“ und die Studie „The Gold Coast and the Slum“ von H. W. Zorbaugh. Die Untersuchungen wandten sich bewusst nicht allein an ein wissenschafliches Publikum, sondern zielten in ihrer Aufmachung und ihrem Stil auf Popularität. Sie machten in der Tagespresse Schlagzeilen, wurden zum Thema von Leitartikeln und fanden Eingang in die Skandalrubriken von Sonntagsblättern.

Literatur:

Robert E. Park und Ernest W. Burgess: „The City. Suggestions for Investigations of Human Behavior in the Urban Enviroment“, Chicago 1984

Rolf Lindner: „Die Entdeckung der Stadtkultur. Soziologie aus der Erfahrung der Reportage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990“, 317 Seiten (nur noch antiquarisch erhältlich)

MATTHIAS ANDREAE