: Ausgesetzte Kindlein im Wald
Sammelstelle für Weihnachtsparanoiker: Heiligabend mit dem Verbrecher Verlag. Mit Wurstdieben, Skifahrern und Fans, die gerne die Füße ihrer Stars berühren mögen. So seltsam, dass man am Ende glatt ein wenig Normalität herbeiwünscht
von DETLEF KUHLBRODT
Letzte Woche hatte der Verbrecher Verlag zum vierten Mal sein betriebliches Weihnachtsfest vor einem Glühweinstand auf dem so leicht depressiven Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz veranstaltet. Man hatte so nebeneinander gestanden und sich an vergangene Feiern erinnert, und jemand hatte berichtet, dass man im Kaufhof zwischen neun und halb zehn umsonst auf die Toilette gehen darf.
Heiligabend beging der Verbrecher Verlag, jenes kleine Berliner Unternehmen, in dem unter anderen Max Müller, Sarah Schmidt, Jim Avignon und der nicht mit mir verwandte Dietrich Kuhlbrodt ihre Werke veröffentlichen, mit einer Verbrecherversammlung in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Seltsam, an Heiligabend in ein Theater zu pilgern, auch wenn man zuvor ja meist schon woanders, unter Freunden oder Verwandten, gefeiert hatte. Vielleicht ist es ein Statement – gegen die in und über uns herrschende Weihnachtsfeststimmung – eine derartige Veranstaltung zu machen oder sie zu besuchen.
Das Weihnachtsfest hat ja so eine gewisse Energie, die auch und gerade Weihnachtsgegner und -paranoiker nicht ignorieren können. Die türkische Bäckerin hatte eine „gute Feier“ gewünscht. Die Stadt war leer und still. Auf den Straßen Kreuzbergs waren fast nur noch Nichtchristen unterwegs. Die Volksbühne war ungefähr zu drei Fünfteln mit vorwiegend jungen Leuten gefüllt. Durchs Programm, das um halb elf begann, führte der Künstler und ehemalige Performer Wolfgang Müller, der einmal mit der „Tödlichen Doris“ bekannt wurde und der sich in den letzten 15 Jahren vor allem mit Blaumeisen, FDP, Zwergen, Elfen und Island beschäftigt hat. Er wirkte nervös, trug einen schwarzen isländischen Trachtenanzug und erzählte, dass es in Island dreißig unterschiedliche Weihnachtsmänner mit unterschiedlichen Aufgabengebieten gebe, „die alle noch bei ihrer Mutter wohnen“.
Einer von ihnen sei als Würstchendieb bekannt. Später sollte jener auch auf die Bühne kommen, um jedem der Auftretenden ein Cabanossi-Würstchen in die Hand zu drücken. Dann sang Wolfgang Müller seinen kleinen Hit von „Elfen, Zwergen, Feen – ich hab sie gesehen“ – und die bekannte Lesebühnenautorin Sarah Schmidt trat auf die Bühne. Sie begrüßte die Anwesenden zum „hoffenlich besseren Teil des Abends“ und las eine humoristische Geschichte vor, in der es um Skilaufen geht und dass Sport eigentlich doof ist, und der eine sagt „Grüß Gott“ und das Erzähler-Ich antwortet „Ja, mach ich gleich“.
Wem dies vielleicht ein bisschen zu frivol gewesen war, konnte sich dann an dem schönen Pathos von Mark Markovic freuen, der mit dunkler Sonnenbrille, dunkler Stimme und Gitarre traurige Lieder in selbst ausgedachten Fantasiesprachen sang.
Zu den einzelnen Auftritten gab es ungefähr dreißig Meter hohe Dias. Als Max Müller, Sänger der Band „Mutter“ und Autor ganz eigener Bücher, eine seltsame Geschichte vorlas, sah man hinter ihm eine schwedische Autobahn.
Die Geschichte handelte von dem fünfjährigen Frank, der von seinen Eltern ausgesetzt wird, allein im Wald sich immer mehr verletzt, schließlich zu Tode und dann in den Himmel kommt. Der Vater, ein Kommunist, hatte auch die Mutter mit einem Hammer kaputt geschlagen. Alles sehr absurd, in einer ganz merkwürdig intensiven, kindlich beschädigten Sprache und aus der Perspektive des Kindes geschrieben. Öfters versprach sich Müller und ging mit seinen Versprechern so um, dass die Geschichte wirkte, als hätte er sie gerade improvisiert.
Der actionreiche Text, den Almut Klotz, die Leiterin des „Popchors“ mit Reverend Chr. Dabeler in verteilten Rollen und mit akustischer Untermalung vorlas, hätte eher in ein Radioprogramm denn auf die große Bühne gepasst. Der Kurzauftritt von Dietrich Kuhlbrodt und seiner Frau, der wunderbaren, manisch-depressiven Schauspielerin Brigitte Kautsch war ganz großartig. Zunächst hatte Wolfgang Müller ein von Wittgenstein inspiriertes Lied gesungen, war dann von der Bühne gegangen, und das Ehepaar hatte dann fünf oder zehn Minuten lang, bis einige im Publikum buhten, den Refrain – „Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen“ – wiederholt. Brigitte Kautsch las dann aus ihren Weihnachtsgedichten – „Löscht aus die Lichter/ Glocken schweiget still…“, Kuhlbrodt trug anschließend einen spirituell sexualisierten Mönchstext vor und aß ein Weinglas.
Jim Avignon war der Einzige, der allen ein frohes Weihnachtsfest wünschte. Dann sang er ein paar Lieder und sprang dabei auf der Bühne herum. Fans versuchten, seine Füße zu berühren. Der Mann am Mischpult hatte Geburtstag. Dies und das war zwar schön, aber im Ganzen doch irgendwie zerfahren. Danach ging man in den anderen Teil des Abends.