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Archiv-Artikel

Die Kundenflüsterer

Wie der einsame Kritiker seinen Elfenbeinturm verlässt: Bei Amazon wird mit der Kundenrezension der Kunstrichter durch Volkes Stimme ersetzt und ganz nebenbei die Literaturkritik demokratisiert

von SEBASTIAN DOMSCH

Die neuen Kritikerpäpste tragen heutzutage gerne Nicknames. Der Nummer-eins-Rezensent im deutschsprachigen Internet beispielsweise ist zurzeit „Propeller Marketingdesign“, auch bekannt als „fuchs170“. 480 Rezensionen hat er geschrieben, das ist schon eine recht beachtliche Zahl, aber um ganz an die Spitze zu kommen, reicht das noch nicht. Quantität ist nicht alles, schließlich kann jede seiner Kritiken wiederum auf ihre Nützlichkeit bewertet werden. Darum ist es vor allem wichtig, dass sich immerhin 1.568 Leser positiv für ihn entschieden haben.

Wenn Sie von „fuchs170“ noch nie etwas gehört haben, dann ist das sicher nicht weiter verwunderlich, und doch hat er einen enormen Einfluss auf das deutsche Kaufverhalten, wenn es um Unterhaltung geht. Denn seine Meinung zählt da, wo es sich auszahlt.

Spricht man heute von Literaturkritik im Internet, sind damit meistens entweder die elektronischen Ableger herkömmlicher Zeitungen gemeint oder die nur für das Netz geschriebenen Literaturmagazine. Beide Zweige haben allerdings mit einer wirklich netzspezifischen Form der Kritik wenig zu tun und befinden sich längst schon wieder auf dem Rückzug. Fast alle Zeitungen schränken ihre Online-Angebote ein, Archiv-Optionen sind mittlerweile in der Regel kostenpflichtig, was bald auch für die jeweils aktuellen Ausgaben gelten könnte. Diese Form der Kritik findet daher bereits weitgehend unter Ausschluss der Netzöffentlichkeit statt. Auch unter den nur im Netz veröffentlichten Angeboten hat schon seit einiger Zeit das große Sterben angefangen, sodass nur noch ganz wenige ernst zu nehmende Rezensionsorgane wie etwa literaturkritik.de übrig bleiben. Und selbst diese nutzen das Internet primär als Distributionsmedium, an Inhalt und Form der Kritiken ändert sich dadurch nichts.

Die eigentliche dem Internet gemäße Form der Rezension findet an einem Ort statt, den kritische Netzbeobachter gern als den Untergang der virtuellen Freiheit im Konsum ansehen, auf den Seiten des Online-Buchhändlers Amazon. Nur hier werden die technischen Möglichkeiten des neuen Mediums genutzt, um den einsamen Kritiker aus seinem Elfenbeinturm zu holen und ihn mitten auf den Marktplatz zu stellen. Bei Amazon ist die Vorstellung, es sei die Aufgabe des Kritikers, das Publikum zu seinem hehren Kunstideal heraufzubilden, durch den Servicegedanken ersetzt worden. Der Kunde wird nicht gezwungen, sich zu den kritischen und argumentativen Standards des gehobenen Rezensentenwesens hinaufzuschwingen, er kann sich Geschmacksstatthalter wählen, die Urteile ganz in seinem Sinn treffen, ohne dass er selbst mit dem mühevollen Prozess der Urteilsfindung zu schaffen hat. Amazon ersetzt mit der Kundenrezension den Kunstrichter durch Volkes Stimme.

Dass das Prinzip der Kundenrezension zukunftsträchtig und erfolgreich ist, sieht man am Erfolg von Elke Heidenreichs Literatursendung. Welche inhaltlichen Bedenken man auch immer dem Literarischen Quartett entgegenhalten mochte, erst „Lesen“ ist die wirkliche Absage an professionelle Literaturkritik, die durch die Lesermeinung ersetzt wird. Dem Medium Fernsehen entsprechend qualifiziert sich der Leser nicht wie beim Onlinehändler durch elektronische Abstimmungsverfahren, sondern durch Prominenz. Das Prinzip ist das gleiche.

Bei Amazon findet die Bewertung von Literatur nach zwei Verfahren statt, die sich gegenseitig ausbalancieren, die assoziative Ausweitung und die demokratisch kritische Eingrenzung. Wer sich schon einmal auf der Homepage von Amazon umgesehen hat, wird wissen, dass jede Sucheingabe dort unweigerlich einen automatischen Vorschlagsmechanismus in Gang setzt. Für jedes gesuchte Buch findet der Onlinehändler mindestens vier ähnliche Vorschläge. Unermüdlich werden Informationen gespeichert über Bücher, die der Kunde gekauft hat, für die er sich interessiert hat, oder die er ablehnt. Diese werden dann mit den Profilen anderer Kunden verglichen, um so neue Vorschläge zu unterbreiten: Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch jenes gekauft. Diese Neuerscheinungen müssten ihnen eigentlich gefallen. Viel besser kann es der berühmte gute Buchhändler, der sich in die Vorlieben seiner Kunden kongenial einfühlt, vermutlich auch nicht.

Dieses Assoziationsprinzip ist expansiv und potenziell unendlich, und bei der Menge an Titeln, mit denen Amazon über den Kunden herfallen kann, droht schnell Überforderung und Beliebigkeit. Deswegen gibt es noch das kritische Element. Kaum ein Artikel wird angeboten, ohne dass es mindestens eine Kundenmeinung dazu gibt, mit Sternchenwertung und kritischem Kommentar. Je nach Popularität des Titels kann aus der vereinzelten Meinung auch mal ein veritabler Chor werden. Der erste Teil von Harry Potter bringt es auf über fünfhundert Kundenrezensionen. Daher wird das kritische Element mit dem demokratischen Verfahren der Abstimmung kurzgeschlossen. „War diese Rezension hilfreich?“, heißt es nach jeder Kundenmeinung, und vor dem Text steht das jeweilige Ergebnis des Votings. Viele Rezensionen und viele hilfreiche Bewertungen führen dann dazu, dass man in die Liste der Toprezensenten aufgenommen wird. Die Ranglistennummer des Leser-Kritikers erscheint direkt neben seinen einzelnen Texten.

Durch diese Rückkopplung entstehen ganz von allein kritische Autoritäten mit hohem Vertrauensfaktor. Zum wichtigen Kritiker steigt dabei auf, wer den Geschmack möglichst vieler möglichst genau trifft. Nur dann kann es wirklich funktionieren, dass mir jemand anderes sagt, was ich mögen werde. Eine Verbindung von Assoziations- und Eingrenzungsprinzip sind daher die Lieblingslisten. Jeder Kunde kann bei Amazon Listen erstellen, meist nach dem Topten-Schema, wobei der Kreativität keine Grenzen gesetzt sind (zehn Körperteile im Kino; zehn Bücher, die man auf keinen Fall verfilmen sollte). Habe ich als Kunde den Rezensenten gefunden, dessen Meinung sich so weit wie möglich mit meiner deckt, kann ich problemlos auch seinen Favoriten vertrauen. So kann ich Titel entdecken, die ich selbst noch nicht kannte und trotzdem bereits gut finde.

Bei Amazon kämpfen die Rezensionen nicht gegen die Windmühlen des Marktes, sondern gehen mit ihnen konform. Es geht nicht um Entdeckungen, dafür sind die computergenerierten Vorschlagslisten zuständig. Es geht um Meinungsbildung, und auch nicht um solche Meinungen, mit denen man sich in intellektueller Runde profilieren kann, sondern um Meinungen, die eine Kaufentscheidung herbeiführen oder abwenden. Denn bei Amazon steht der demokratisch beglaubwürdigte Rezensent immer direkt in der Buchhandlung und flüstert dem Kunden ins Ohr, während dieser vor dem Regal steht und ein Buch oder eine CD prüfend in der Hand hält. Wer sich auf das Verfahren der demokratischen Kritik einlässt, kann daher kaum enttäuscht werden, denn er kauft ja nur, was er ohnehin schon so oder ähnlich im Regal stehen hat.