: Dribbeln gegen die dröge Welt der Schule
Ein Tag auf dem Bolzplatz ist wie ein Schnellkurs in Sachen Konfliktlösung und sozialer Kompetenz. Ein Besuch am Betonspielfeld im Humboldthain
von PATRICK ABELE
Früh am Morgen, kurz vor zehn Uhr, ist es still am Humboldthain. Die hohen Bäume der Parkanlage dämpfen den Lärm des nahen Straßenverkehrs. Auf den schmalen Wegen und den Wiesen liegen letzte Reste des bunte Laubes, die Bäume bewegen sich im Rhythmus des leichten Windes. Gelegentlich kreuzt ein Jogger auf, dick eingepackt, der warme Atem sichtbar. Es sind die Zeichen eines sehr späten Herbsttages. Die robusten Fußballtore aus Eisenstangen, versteckt in einer Senke, stehen sich wie Gegenspieler gegenüber.
Zwischen den Toren auf der Betonfläche gibt es keine Markierungen. Wo beginnt der Strafraum? Wo endet er? Wird mit letztem Mann gespielt, mit Torwart oder im fliegenden Wechsel? Auf dem Bolzplatz müssen diese Dinge jedes Mal neu geregelt werden. Jeden Tag beginnt ein neues Spiel, das mit seinen Spielern an Form gewinnt.
Sedat ist der Erste, der an diesem Samstagmorgen den Platz betritt. Gedankenverloren beginnt der 14-Jährige den Ball gegen die Umzäunung zu kicken, bis der Ball drüber hinwegfliegt. Er flucht. Als er das runde Leder zurückgeholt hat, lehnt er sich locker an den Zaun und wartet auf seine Freunde. „Wir spielen hier immer“, sagt Sedat, „es ist der einzige Bolzplatz in der Gegend.“ Einen Platz zum Kicken, einen Kiosk in der Nähe. Mehr braucht er nicht für einen schönen Tag.
Auf dem Bolzplatz bekommt der Fußball seine Freiheit zurück. Hier gibt es keine festen Regeln, Sieg und Niederlage stehen nicht im Vordergrund. Vielleicht wird das Bolzen, das Spielen an sich, gerade deshalb so geliebt. Nach einem gelungenen Dribbling, nach einer geglückten Kombination verdrängt das freie Spiel die monotone Alltagswelt der Schule.
Ein Bolzplatz kann einen fesseln, wie den neunjährigen Maximilian in Joachim Masanneks Kinderbuch „Die wilden Fußballkerle“, der über zehn Tage Hausarrest klagt: „Lieber Gott, das ist nicht gerecht. Ohne Fußball kann man nicht leben. Selbst deine Erde ist rund. So rund wie ein Ball.“
Rasenplätze sind selten, und oft wird die Freiheit auf Betonplätzen gelebt. Beton braucht für die Wartung nur einen Besen. Ein Rasen braucht Pflege, die er oftmals nicht bekommt und kaputtgeht. Sedat und seine Freunde spielen, so wie die meisten Straßenfußballer, auf Beton. Um halb elf ist die Gruppe vollständig. Bülent bestimmt, was passiert. Er ist hier der Boss, nur er bestimmt, wer mit wem zusammenspielt. Der 15-Jährige hat sich dieses Recht erspielt, in unzähligen Partien, in denen er fast immer der Beste war. Das Spiel geht los. Vier gegen Vier, so wie fast jeden Tag.
Ein Herbsttag auf dem Bolzplatz ist ein Schnellkurs in Sachen Konfliktlösung und sozialer Kompetenz. Foul oder Schwalbe, Tor oder nicht Tor, das entscheidet das Kollektiv. Kein Schiedsrichter wird benötigt. „Hier sind wir die Chefs“, sagt Bülent, und man merkt den Ernst seiner Worte. Hier gibt es keinen Trainer, der den Spielern Vorschriften macht, Kondition fordert und taktische Anweisungen vorgibt.
Auf dem Bolzplatz gibt es nur eine Maxime: Die Jugendlichen wollen Spaß, sie wollen sehen, wer die besten Tricks draufhat und die Tore reinmacht. Jeder Trainer würde vor Wut schäumen, wenn er sähe, wie die Jungs auf dem Bolzplatz jeden ausspielen müssen, so lange dribbeln, bis sie vor Erschöpfung den Ball verlieren. Gelingt einem Spieler ein Solo, so gibt es Beifall. Auch vom Gegner.
Viele aus der Clique um Bülent haben früher im Verein Fußball gespielt. Über die Gründe für ihren Austritt aus den Clubs sagen sie nicht viel. Nur: Blöd und langweilig sei es gewesen. Martin Pohl von der Hertha-Stiftung kennt dieses Phänomen. Phrasenhaft erklärt er, dass „die zunehmende Individualisierung den Vereinen den Mitgliederschwund beschert“.
Um die jugendlichen Straßenfußballer trotzdem zu erreichen, engagierte sich die Hertha-Stiftung beim Umbau eines Bolzplatzes in Kreuzberg. Das Projekt „Oder-Bolzen“ soll „einen Gegenpol zum kommerziellen Profisport schaffen“, so Pohl. In Kreuzberg sollen Talentscouts für die Vereine nach talentierten Straßenkickern Ausschau halten. Bülent und Sedat haben jedoch bei ihnen noch nie einen Mann mit Notizblock gesehen – und eigentlich ist es ihnen auch egal.
Die herbstlich schwache Sonne ist längst hinterm Falkberg verschwunden. Die acht Jungs spielen immer noch. Sedat bekommt den Ball flach zugespielt, nimmt ihn gekonnt mit dem Außenrist an, fast schon wie Ronaldo umkurvt er seine Gegner, er schießt. Und schießt ein Tor, nur für sich.