Tötet jede Geschmacksknospe

Norweger in aller Welt essen zu Weihnachten Lutefisk – einen grauenhaften Stinkfisch

Es gibt viele Gerichte, die stinken, aber gut schmecken. Der Lutefisk gehört nicht dazu

Wie Weihnachten hierzulande riecht, scheint klar: nach Glühwein, halbverbrannten Plätzchen, Tannennadeln und gebrannten Mandeln. In Skandinavien stinkt die Adventszeit jedoch nach Fisch. Sehr altem Fisch, der zudem auch schon ziemlich lange tot ist.

Lutefisk gilt, vor allem in Norwegen, nämlich als das ultimative Weihnachtsessen. Und als absolute Delikatesse, was jedoch wohl nur daher rührt, dass das heute drittreichste Land der Welt bis zur Entdeckung des Nordsee-Öls zu den ärmsten Staaten Europas gehörte. Einzig Holz und Fisch gab es im Übermaß.

Um den Fisch für die langen Wintermonate haltbar zu machen, musste er getrocknet werden. Trockenfisch ist jedoch eine furchtbar langweilige Speise, und so wurde er von den Pietisten für besondere Festtage aufgepeppt. Zu Weihnachten etwa gab man sich ganz besonders viel Mühe und scheute auch umständliche, mehrtägige Vorbereitungen nicht: Zunächst wird der Stockfisch sehr lange gewässert, anschließend muss das Wasser durch Pressen und gezieltes Hochlagern aber wieder raus dem Fisch, „sonst wird er Suppe“, wie Kenner erklären. Zeit genug also, um das ganze Haus vollzustinken. Wenn der Lutefisk dann endlich aussieht wie Qualle mit Gräten, ist er servierfertig. Mit gebratenen Speckwürfeln – früher ein unerhörter Luxus – garniert und angerichtet mit Erbsenpüree und Kartoffeln, kommt er auf den Tisch des Hauses, aus dem die Kinder der Gastgeber meist zuvor evakuiert wurden.

Per Boye Hansen, Direktor der Komischen Oper in Berlin, erklärte im vergangenen Jahr bei einem Lutefisk-Essen der Norweger in der Hauptstadt, seine ersten Quallenfisch-Erlebnisse seien „ganz schrecklich“ gewesen. „Es war in der Adventszeit, wir waren noch ganz klein, und hielten diesen ekligen Fischgestank im Haus einfach nicht mehr aus – deswegen wurden wir bei den Nachbarn einquartiert. Wie in den folgenden Jahren auch: Wenn die Erwachsenen Lutefisk aßen, wohnten wir Kinder schon ein paar Tage vorher woanders.“

Besonders edle Motive dürften die Eltern dabei nicht gehabt haben: Zu einem richtigen Lutefisk-Essen gehört nämlich vor allem Aquavit. Viel Aquavit. Extrem viel Aquavit. Trockenfisch-Hasser vermuten, der Alkohol diene vor allem dazu, die Geschmacksnerven abzutöten.

In den USA, wo viele norwegische Auswanderer leben und wo sie ihre Mitmenschen besonders gern mit dem Stinkefisch zu terrorisieren scheinen, sei der Lutefisk mittlerweile beliebter als in seiner Heimat, klagen etwa geruchsempfindliche New Yorker. Der Importeur „Olsen Fish“ aus Minnesota stimmt dem zu: „Allerdings sterben die Liebhaber des Gerichts langsam aus – jedes Mal, wenn einer unserer alten Norweger stirbt, bedeutet das einen Verkaufsrückgang von fünf Kilo!“ Bei einem Gesamtverbrauch von 500 Tonnen in den ganzen USA mag diese Menge nicht besonders in Gewicht fallen, aber es sei fast unmöglich, neue Kunden zu finden, klagt Olsen. Ein für bequeme Fischliebhaber angebotenes Lutefisk-Tiefkühlgericht sei „von Jahr zu Jahr schwerer an den Kunden zu bringen“.

Trotzdem, nach Beobachtungen der New York Times „stinken auch dieses Jahr wieder hunderte lutheranischer Kirchen nach dieser einzigartigen Mischung von vergammeltem Fisch und Chemiefabrik“.

Was unerschrockene Gourmets vielleicht nicht abschreckt, schließlich gibt es weltweit viele Gerichte, die extrem stinken, aber in Wirklichkeit äußerst gut schmecken. Der Lutefisk gehört jedoch nicht dazu. Er schmeckt wie er aussieht. Pluspunkte gebühren ihm daher lediglich dafür, dass er ein extrem ehrliches Gericht ist. Was selbst Hardcore-Norweger zugeben – nach vielen, vielen Aquavits hört man von ihnen meist, dass es beim adventlichen Fischessen eher um Tradition, Heimweh und Schnaps denn um die Delikatesse gehe: „Es hat schon einen Sinn, dass der Lutefisk ausschließlich vor Weihnachten gegessen wird. Das ist zum Glück ein ziemlich kurzer Zeitraum!“

Und so wird sich die Spezialität wohl international auch weiterhin kaum durchsetzen. Für Menschen, denen es vor gar nichts graust, hat man in den USA immerhin einen eigenen Test entwickelt, der Aufschluss darüber geben soll, ob und wann man bereit für das einzigartige Geschmackserlebnis ist: Man muss nur einen Cracker mit Kaviar bestreichen und das Ganze mit einem Salatblatt und einem Spritzer Zitrone verfeinern. Anschließend bestreicht man einen Schokoriegel großzügig mit Ketchup. Dann sollte man möglichst schnell einige große Gläser Aquavit leeren und sich die Augen verbinden lassen. Schmeckt man einen Unterschied zwischen dem Fischeier-Kanapee und der Tomaten-Schokolade, „dann ist man eindeutig noch nicht so weit“, erklärt Clay Shirke in seiner „Ode an den Lutefisk“. Und sollte daher weitertrinken, bis man das Gefühl hat, dass wirklich jede einzelne Geschmacksknospe absolut tot ist.

ELKE WITTICH