: Zwischen Liebe und Feilschen
Die Diskussion um die europäische Verfassung macht deutlich: Die EU wird sich besten-falls zu einer Freihandelszone entwickeln. Das hätte auch anders kommen können
Wenn es nicht so traurig wäre, wäre es fast lustig: Die Geschichte der europäischen Verfassung, die kurz vor Weihnachten ihren großen Moment hatte, ist eine Geschichte des Versagens, der Fehler und der gedanklichen Irrwege. Es ist befremdlich, wie viele Fehler erfahrene Politiker und Staatsmänner begehen können.
Der erste Fehler: Eine Verfassung haben zu wollen, ohne über ein Staatsvolk zu verfügen. In den meisten Fällen ist eine Verfassung nicht Ergebnis der Anwendung positiven, also gesetzten Rechtes, sondern genau das Gegenteil: Die Verfassung nimmt Recht, Verhaltensweisen, Bräuche und Werte einer Gruppe, einer Gesellschaft, einer Nation oder eines Staatenbundes auf und bildet daraus ein schlüssiges Ganzes, mit dem die betreffende Gesellschaft umgehen und das sie akzeptieren kann. Die Europäische Verfassung war ein Projekt, nicht ein Ergebnis sozialen und politischen Verhaltens. Zudem vereint eine Verfassung grundsätzliche Normen und legt nicht fest, wer wie viele Stimmen hat und welche Institutionen gegründet werden. Und zuletzt sollte über die Verfassung vom Europäischen Parlament diskutiert und abgestimmt werden, nach dem Mai 2004. Dann sollten die Bürger abstimmen – nicht die Nationen, und erst recht nicht die Regierungschefs. Es gibt keine Notwendigkeit für eine Europäische Verfassung, solange wir keine Europäische Union haben. So waren einfach die Prioritäten falsch gesetzt, und die Palette institutioneller Regelungen verdient den Namen Verfassung nicht.
Der zweite Fehler: die Debatte über die Werte in der Verfassungspräambel. Zunächst einmal: Was sind Werte? Philosophen halten Antworten auf diese Frage für nahezu unmöglich. Aber alle schönen Dinge zusammenzufassen und sie dann als europäische Traditionen zu präsentieren, ist purer Nonsens. Genauso unsinnig war die Debatte, ob Europa eher auf Platon oder auf Jesus Christus basiert. Es erinnert an den Aufruf der polnischen Solidarność 1981, in dem alle guten Dinge enthalten waren: Christentum, Demokratie, Sozialismus, Freiheit, Tradition, Gleichheit und Marktwirtschaft. Natürlich kann man all das als „Werte“ sammeln und in einen Sack stecken. Aber was soll das bringen? Die polnische Herangehensweise war dabei genauso falsch wie die französische. Polen sah das Christentum als Teil der Geschichte, was natürlich richtig ist. Aber Kriege sind auch Teil der Geschichte, Ausbeutung und Elend gehören ebenso dazu. Und all das soll in der Präambel der Verfassung stehen?
Der dritte Fehler: Wir alle hofften, die EU sollte eine Form von Solidarsystem sein, vielleicht ähnlich einer Familie. Natürlich gibt es auch in Familien Streit, aber sie bleiben Familien und beruhen auf der gegenseitigen Solidarität ihrer Mitglieder. Entweder ist die EU also eine Familie, oder sie ist eine Institution zur Krisenbewältigung. Solidarität braucht guten Willen, Krisenbewältigung braucht harte und fähige Verhandler. Das sind zwei vollkommen unterschiedliche soziale Institutionen. Entweder Liebe oder Feilschen. Niemand war mutig genug, offen zu sagen, dass die EU keine Institution ist, in der die Liebe dominiert, sondern dass sie aus einem Haufen Bürokraten besteht, die versuchen, über die Anzahl von Fischen zu entscheiden, die Schweden aus dem Meer angeln darf. Weiter von Liebe kann man nicht entfernt sein. Die Entscheidung über das Antlitz der EU hätte vor langer Zeit gefällt werden sollen, als die alte EWG sich von der puren Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen Union wandelte.
Der vierte Fehler: Warum entschied die EU, 10 neue Länder aufzunehmen? Ich glaube nicht, dass es auf diese Frage eine gute Antwort gibt. Vielleicht diese, dass es reicht, Europäer zu heißen und an die kommunistische Vergangenheit zu erinnern, damit die EU sich zur Aufnahme verpflichtet fühlt. Aber ist das eine ernsthafte Antwort? Sind ökonomische Vorteile, kulturelle Nähe oder zwischenstaatliche Solidarität vernünftige Antworten? Ich glaube nicht. Die Debatte über die Erweiterung oder Vertiefung der Union war lang, aber nicht besonders produktiv. Sogar jetzt wissen die 15 alten Mitgliedsstaaten nicht genau, warum sie sich zur Aufnahme der neuen 10 entschieden haben. Die 10 neuen hingegen haben sehr einfache Vorstellungen darüber. Sie erwarten vor allem wirtschaftlichen Profit. Doch das hilft nicht, die Idee eines vereinten Europas zu verbreiten.
Der fünfte Fehler: Es wurde nicht offiziell gesagt, aber es ist offensichtlich, dass die europäische Idee auf einem schwächeren oder stärkeren Gegensatz zu den Vereinigten Staaten gründet. Ob das nun gut ist oder schlecht, sei dahingestellt – den Verfassungsprozess behindert es. Einige Länder wie Polen, Spanien oder Italien sind nicht antiamerikanisch eingestellt, andere doch. Dies ist ein ernster Punkt, denn einige politische Führer der EU möchten Europa als Gegenmacht zu den USA aufbauen. Dieses Thema sollte geklärt werden, ehe über eine Verfassung nachgedacht wird.
Der sechste Fehler: Die Verträge von Nizza waren vielleicht nicht sehr gut, aber die Idee von einem Kerneuropa ist vollkommen unakzeptabel. Solch ein Kern wird sich sehr schnell bilden, ungeachtet des Verhaltens Polens oder Spaniens auf dem Verfassungsgipfel. Es gibt Länder, die schneller gehen wollen und können. Sie dazu zu zwingen, auf Polen, Griechenland oder die Slowakei zu warten, wäre Blödsinn. Aber warum sagt man das nicht, warum wird die falsche Illusion der Gleichheit aufrechterhalten?
Der siebte Fehler: das Stimmgewicht eines Landes von seiner Bevölkerungszahl abhängig machen. Entweder wir haben ein Vereintes Europa, oder wir haben Nationalstaaten, die stärker oder schwächer, größer oder kleiner sind. Territorium und Bevölkerung Polens sind relativ groß – seine volkswirtschaftliche Leistungsfähigkeit aber liegt unter der einiger deutscher Bundesländer. Polen hat sich entschieden – und zwar fälschlicherweise – die theoretische Macht, die es aus seiner Größe ableitet, zu demonstrieren. Litauer und Slowenier taten das nicht. Und warum? Weil sie wirklich klein sind. Die Idee, dass Macht von der Einwohnerzahl abhängt, ist die primitivste, die vorstellbar ist.
Der achte Fehler: Polen und einige andere Länder haben all die Fehler der alten Union nicht verstanden und gedacht, sie könnten den Bau des europäischen Hauses noch grundlegend beeinflussen. Doch so sollte man an die Sache nicht herangehen.
Natürlich wird die EU überleben, doch alle Illusionen über europäische Solidarität und Freundschaft können wir auf Jahre hin vergessen. Genau wie die Idee einer Verfassung. Europa wird sich zu einer Freihandelszone entwickeln. Es wird einige oberflächliche Reparaturen geben, einige grimmige Debatten, und die EU existiert weiter als ein Namen, nicht als Wirklichkeit. Dass muss gesagt werden – weil es auch anders hätte kommen können. Die Rolle Polens war alles in allem destruktiv. Allerdings sind nicht nur die Polen allein zu tadeln. MARCIN KRÓL
Aus dem Englischen von Heike Holdinghausen