piwik no script img

Archiv-Artikel

Der perfekte Augenblick

Es gibt nicht so viele Jahresendträume, deren Erfüllung 2004 im Angebot ist. Einer schon. Es ist ein Traum der kurzsichtigen Hälfte der Bevölkerung: Augen aufschlagen und endlos weit sehen können. Karl-Heinz W. war 42, als er sich einer Laser-OP unterzog

„Brillen stehen für Gelehrtsein – und welches Kind möchte gelehrt aussehen?“

VON ULRIKE WINKELMANN

Was muss das für ein Moment sein! Der Kölner Journalist Karl Heinz W. beschreibt ihn so: „Ich wurde mit dem Rollstuhl durch den dunklen Operationsraum geschoben, und dann hieß es, schauen Sie doch mal eben: Wie spät ist es? Und ich guckte und las es von der Uhr an der Wand ab. Ohne Brille wäre das früher nie gegangen.“

Es ist für Zuhörer etwas verstörend, aber die meisten, die sich ihre Kurzsichtigkeit wegoperieren ließen und davon erzählen, klingen auch ein bisschen religiös erweckt. Das muss an diesem Moment liegen, in dem die Welt ringsum in gestochen scharfen Konturen und voller klarer Farben erstrahlt, und zwar ringsum, 360 Grad. Und ohne diese Glaswand dazwischen.

„Ich bin eine eitle Sau“, sagt Karl-Heinz W. Er ist jetzt 44, mit 42 ließ er die Laser-Operation machen. Seit der zweiten Klasse trug er Brille, zuletzt hatte er rechts minus zehn Dioptrien und links minus acht. Zur Erklärung für Normalsichtige: Das ist schon ganz schön blind. Kontaktlinsen kamen nicht in Frage, zu wenig Tränenflüssigkeit. Deshalb stand der langhaarige Rockgitarrist W. viele Jahre ganz schön blind auf der Bühne. Weil Rocker wild und frei und sexy sind und Brillen schlichtweg nicht dazu passen.

„Wenn ich im Traum von mir vorkam, trug ich keine Brille“, sagt W. „Ich habe mich nie im Spiegel ohne Brille gesehen.“ Nein, mit 42, nach 36 Jahren mit Brille, leidet man nicht mehr darunter. Aber plötzlich rief diese Freundin einer Freundin an und jubelte, sie habe sich die Augen lasern lassen und es sei „unbeschreiblich, einfach unbeschreiblich!“ Er ging dann zur Beratung. 4.000 Euro kostete alles zusammen, und heute hat er rechts doch noch minus ein Dioptrien und links minus 0,5. „Ein ganz klein bisschen sauer war ich, dass es nicht hundertprozentig war. Aber trotzdem bin ich total glücklich.“

Es ist typisch, dass Leute sich von Freunden und Bekannten zu einer Operation bewegen lassen – und nicht durch die massiven Werbekampagnen, mit denen die Augenlaserindustrie mittlerweile das Land überzieht. Augenlasern ist ein Privatgeschäft, die Kassen zahlen nicht, und auch die Privatversicherer bieten eine Kostenerstattung nur noch selten an.

80.000 Menschen ließen in Deutschland im vergangenen Jahr ihre Augen lasern. Rechnet man 3.000 Euro pro Augenpaar – in Berlin gibt es inzwischen Schnäppchen, 1.000 Euro pro Auge –, entspricht das einem Umsatz von 240 Millionen Euro. Rund hundert Laser stehen im Land, die meisten in den Großstädten.

Seit zehn Jahren ist der Marktführer die Methode namens Lasik. Eine Maschine – keine Menschenhand – schneidet einen Deckel, den „flap“, von der Hornhaut ab, darunter werden Bruchteile von Millimetern der Hornhaut weggelasert, der Deckel wieder zugeklappt und fertig. Zwanzig Sekunden pro Auge.

Wird bei einer ersten OP die gewünschte Augenstärke – bis zu plusminus 0,5 Dioptrien – nicht erreicht, wird meist nachgelasert. Die Komplikationsquote beträgt 0,5 Prozent, sagt Ekkehard Fabian, ein Augenarzt in Rosenheim, der selbst operiert und im Berufsverband der Deutschen Augenärzte für das Thema zuständig ist. Das ist immerhin jedes 200. Auge. Aber unheilbare Fehler seien „unglaublich selten – nicht ausgeschlossen, aber sehr rar“. Sagt Fabian – etwa, wenn die Wölbung der Hornhaut falsch eingeschätzt und ein Loch hineingeschnitten wird.

Stand der Wissenschaft ist, dass die Hornhaut eine Restdicke von 0,25 Millimeter behalten muss. Von Nebenwirkungen und Langzeitfolgen ist bislang sehr wenig bis nichts bekannt. Allerdings gibt es auf dem Markt keine Qualitätskontrolle, das Geschäft kennt keinen Meisterzwang und kein Staatsexamen. „Jeder Heilpraktiker dürfte sich den Laser kaufen“, sagt Ekkehard Fabian, und er empfiehlt, nur dorthin zu gehen, wo schon viele Operationen gemacht wurden. Es heißt, sehr viele Augenärzte ließen sich selbst die Augen lasern – ein Hinweis darauf, dass die Ärzte ihrer Technik wirklich vertrauen.

„Ich wusste von Anfang an, dass es irgendwann wieder schlechter werden würde“, sagt Kerstin N., Leiterin eines Frauen-Arbeitsmarkt-Projekts in Hamburg. Sie hat die OP 1997 machen lassen. Da war sie 26 und hatte minus fünf Dioptrien auf beiden Augen. Drei Jahre kam sie ohne Brille aus, trägt seit 2000 aber wieder eine, weil sich ihre Augen mit Ende zwanzig, Anfang dreißig doch noch verformt und damit wieder verschlechtert haben. Aber das findet sie gar nicht schlimm. „Ich wollte halt wieder klein anfangen“, sagt sie.

Sie wollte bloß nicht mehr so stark kurzsichtig sein, dass die hochverdichteten Gläser so teuer sind und man sich ohne gar nicht mehr bewegen kann. „Mein einschneidendes Erlebnis war, als meine Nichte im Schwimmbad auf meine Brille trat und ich nicht mit dem Auto nach Hause fahren konnte. So hilflos wollte ich nicht mehr sein.“

Um Eitelkeit, sagt sie, gehe es ihr überhaupt nicht: „Wieso? Ich trage total gerne Brille. Ich finde, eine Brille kann einen als Typ auch aufleben lassen.“ Im Übrigen spiele sie auch Volley- und Fußball mit Brille – „ja, auch Kopfbälle“.

Vielleicht liegt es daran, dass Kerstin N. ihre erste Brille erst mit 16 bekam, dass sie Brillen mag: An anderen stört die Brille ja sowieso nie. Aber um Brillen an sich selbst gut zu finden, muss man ein erwachsenes Verhältnis zu ihnen haben, mit einem erwachsenen Blick für Schönheit und Freiheit. Wer schon als Kind eine Brille tragen musste, hat sie meist hassen gelernt.

„Von Nebenwirkungen und Langzeitfolgen ist bislang sehr wenig bis nichts bekannt“

Brillen stehen seit ihrer Erfindung vor 700 Jahren fürs Gelehrtsein – und welches Kind möchte gelehrt aussehen? Es waren Mönche, die so lange wie möglich lesen und schreiben wollten, dann waren es Wissenschaftler, und nach Ausbreitung der Lesekultur alle, die sich das Lesen leisten konnten. Doch sehr früh bekam die Brille auch eine Zweitbedeutung zugedichtet: Nicht nur die Klugheit, auch die Verschlagenheit, die Täuschung.

Thomas Lentes, Münsteraner Kulturhistoriker, weist auf ein Bild von Hieronymus Bosch (ca. 1450–1516) hin. Da finde sich ein Taschenspieler mit Brille. „Die Brille ist sehr früh auch ein Zeichen von Betrügern“, sagt Lentes, der selbst eine trägt. „Teufel und Narren tragen Brillen.“ Der Meistersinger Hans Sachs (1494–1576) nannte einen Possenreißer und Großsprecher „Brillenreißer“. Das Element der Aufschneiderei taucht im niederländischen Sprichwort wieder auf: „Das ist keine Nase, eine Brille zu tragen.“

Wann aber die Brille auch als hässlich oder unnatürlich wahrgenommen wird, darüber finden sich kaum kulturelle Spuren vor dem 20. Jahrhundert. Dadurch, dass immer mehr Sehfehler korrigiert werden können und müssen und immer mehr Menschen eine Brille tragen, erfährt sie eine Demokratisierung.

Die Zuschreibung des Zauberisch-Betrügerischen geht vollkommen unter, die Bedeutung als Gelehrtensymbol vermischt sich immer weiter mit der Verwendung der Brille als Zeichen entweder des Ausgegrenzten oder des Ungeliebt-Unattraktiven: Unendlich viele Filme, in denen die junge Frau, wenn sie endlich ihre Brille abnimmt, in Schönheit erstrahlt und früher oder später geküsst wird.

Ist es das? Vielleicht ist das doch der Traum hinter dem Traum vom perfekten Sehen, den das Augenlasern dem erwachsenen Menschen erfüllt: Das Gesicht unverstellt und küssbar der Welt auszusetzen. Und wenn es ein Traum ist, dessen Bilder aus Hollywood geliefert wurden, so bleibt es trotzdem ein Traum.