: Das Jawort ist noch nicht sicher
Ein Niederländer auf ReisenAUS BRÜSSEL RUTH REICHSTEIN
Für den derzeitigen EU-Ratsvorsitzenden, den niederländischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende, ist klar: die Verhandlungen mit der Türkei müssen beginnen und nur ein Ziel haben: den Beitritt. Das erklärte Balkenende Anfang der Woche bei seinem Besuch in Berlin gemeinsam mit Bundeskanzler Gerhard Schröder.
Balkenendes Staatssekretär für europäische Fragen, Atzo Nicolai, unterstrich zur gleichen Zeit im Straßburger EU-Parlament, wie wichtig die Beitrittschancen der Türkei für die dortigen Reformen sind. Er sprach von „beeindruckenden Fortschritten“ und einer „revolutionären Geschwindigkeit“. Und das, obwohl die Türkei keinen Katalysator wie den Mauerfall gehabt habe, der in den osteuropäischen Ländern den Fortschritt beschleunigt hatte. Gerade deshalb sei es wichtig, den Reformprozess jetzt nicht durch eine Absage der Verhandlungen zu gefährden.
Ein Beitritt sei aber nur dann möglich, fügte Nicolai hinzu, wenn die Türkei tatsächlich alle Kopenhagener Kriterien erfülle. Vor allem im Bereich der Menschenrechte sei noch einiges zu tun. Diese Haltung findet sich auch in den vorläufigen Schlussfolgerungen für den heute beginnenden EU-Gipfel wieder. Folter müsste in Zukunft in der Türkei ausnahmslos ausgeschlossen sein, heißt es da.
Seit Wochen schon bemüht sich die niederländische EU-Präsidentschaft um eine Einigung der 25 Staaten in der Türkei-Frage. Immer wieder wurden die vorläufigen Schlussfolgerungen für das Treffen der Staats- und Regierungschefs heute und morgen in Brüssel geändert. Der niederländische Außenminister Bernhard Bot erklärte am Montag, beim Treffen mit seinen EU-Kollegen habe man „in den meisten Punkten einen Kompromiss gefunden“, mehrere Punkte seien aber noch offen. Und das sind die wichtigsten. Besonders umstritten ist, ob in das Schlussdokument neben dem Ziel der Vollmitgliedschaft als Alternative eine „besondere Partnerschaft“ aufgenommen wird. Und ob die Verhandlungen „ergebnisoffen“ geführt und zeitlich begrenzt werden sollen. Uneinig sei man auch über das Startdatum der Beitrittsgespräche.
Die Niederländer haben in den vergangenen Tagen ihre Anstrengungen für einen Kompromiss verstärkt. Balkenende sprach in Brüssel mit dem türkischen Ministerpräsident Erdogan und besuchte zahlreiche EU-Hauptstädte, darunter neben Berlin Paris, Wien und Athen. In Griechenland ging es vor allem um die Zypernfrage. Die Regierung von Kostas Karamanlis fordert die Anerkennung der Insel durch die Türkei. Balkenende sagte aber, das sei kein Kriterium, das die Aufnahme der Verhandlungen verhindern könnte. Allerdings heißt es in den vorläufigen Schlussfolgerungen nun, der Rat begrüße die Zustimmung der Türkei zum Ankara-Abkommen, in dem alle bisherigen Mitgliedsstaaten anerkannt werden – also auch Zypern.
Sozialisten gegen Türkei-Beitritt
AUS PARIS DOROTHEA HAHN
Der Staatspräsident ist dafür. Die Türkei hat eine „europäische Vokation“, hat Jacques Chirac gesagt. Sie gehöre in die EU – als „bestes Mittel gegen Kulturschocks“. Doch Chiracs Landsleute sind in der Türkei-Frage nicht mit ihm einverstanden. Ihre Mehrheit will die Türkei nicht in der EU haben.
Nach einer Umfrage, die das Institut Ifop für den Figaro durchführte, sind 67 Prozent der Franzosen gegen einen türkischen EU-Beitritt. In Deutschland sind es laut Ifop 55 Prozent. Der Unmut könnte – so wird im Élysée-Palast befürchtet – das für nächstes Jahr geplante französische Referendum über die EU-Verfassung negativ beeinflussen.
Die Hauptargumente der FranzösInnen gegen den Beitritt sind laut Ifop die demokratischen Mängel der Türkei, ihre Nicht-Zugehörigkeit zu Europa sowie ihr relativ unterschiedliches wirtschaftliches Niveau. Der Islam werde nur als nachrangiges Argument genannt.
In Chiracs Partei UMP ist nicht nur der frisch gewählte Parteichef Nicolas Sarkozy gegen einen türkischen EU-Beitritt, sondern auch 71 Prozent der Mitglieder sowie Regierungschef Jean-Pierre Raffarin.
Die oppositionellen Sozialisten sind ein bisschen weniger kategorisch. Ihr Chef François Hollande hält die Aufnahme von Gesprächen für richtig, für ihn ist als Verhandlungsziel jedoch sowohl eine EU-Mitgliedschaft als auch eine „privilegierte Partnerschaft“ denkbar. Sein Vize Laurent Fabius hingegen sowie mehrere andere Spitzensozialisten machen bereits Kampagne gegen einen türkischen Beitritt.
Angesichts derart massiven Widerspruchs hat Chirac Anfang Oktober ein Zugeständnis gemacht. Wenn die Verhandlungen zwischen EU und Türkei abgeschlossen seien, so versprach er, werde es in Frankreich ein Referendum über den Beitritt geben.
Für die französische Skepsis und Distanz gegenüber der Türkei gibt es viele Gründe. So stammt die Mehrheit der EinwanderInnen aus Nordafrika – einer Region, die Frankreich geografisch, historisch und sprachlich näher liegt als die Türkei. Auch die 400.000 ArmenierInnen in Frankreich zählen. Ein politisch breit gefächertes armenisches „Komitee für ein Nein“ macht mit dem Hinweis Kampagne: „Wenn Deutschland die Shoah geleugnet hätte, wäre es niemals zu Aufnahmeverhandlungen gekommen.“ Als Geste gegenüber den ArmenierInnen hat der Pariser Außenminister Michel Barnier in dieser Woche erstmals von dem „armenischen Genozid“ gesprochen. Zuvor hatte er stets das Wort „Tragödie“ benutzt. Frankreich werde bei den Beitrittsverhandlungen eine Anerkennung dieses „Genozids“ verlangen.
Wird Zypern nun anerkannt?
AUS ISTANBUL JÜRGEN GOTTSCHLICH
Neben der generellen Debatte über die Frage, ob die Europäische Union Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnimmt, wird es auf dem heute beginnenden Gipfel auch um eine ganz konkrete Frage gehen: Wie weiter mit dem bislang ungelösten Problem Zypern? Der griechisch-zypriotische Präsident Tassos Papadopoulos hat gefordert, Ankara müsse vor dem Beginn von Verhandlungen die Republik Zypern diplomatisch anerkennen und damit den Alleinvertretungsanspruch des griechischen Präsidenten für die gesamte Insel akzeptieren.
Die türkische Regierung hat dies kategorisch ausgeschlossen, solange es keinen von beiden Bevölkerungsgruppen Zyperns, den Griechen und Türken, akzeptierten Friedensvertrag für die Insel gibt. Die Abstimmung über den UN-Friedensplan zur Wiedervereinigung der seit 1974 geteilten Insel scheiterte im April – auch zur großen Enttäuschung der EU – am Nein der Griechen.
Formal ist Papadopoulos im Recht, da das türkische Nordzypern international nicht anerkannt wird. Andererseits kann man von der türkischen Regierung kaum verlangen, dass sie eine Regierung diplomatisch anerkennt, die gerade erst eine politische Lösung auf der Insel verhindert hat.
Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, drohte der griechische Präsident deshalb mit einem Veto gegen den Beginn von Beitrittsgesprächen der EU mit der Türkei. Als Ausweg aus dem Dilemma will die niederländische EU-Ratspräsidentschaft erreichen, dass die Türkei Papadopoulos zwar nicht formal, aber zumindestens de facto anerkennt, indem die türkische Regierung das Protokoll über die Ausweitung der Zollunion auf die zehn neuen EU-Mitgliedsländer inklusive Zypern, ratifiziert.
Da dies nicht mehr während des Gipfels geschehen kann, wird die Lösung wohl darin bestehen, dass Ankara zusagt, bis zum Beginn der Gespräche (das Datum wird erst auf dem Gipfel festgelegt) das Protokoll zu ratifizieren. Im Gegenzug sollen die griechischen Zyprioten darauf festgelegt werden, neue Gespräche mit den türkischen Zyprioten zu beginnen.
Erinnerungen an Wien 1683
AUS WIEN RALF LEONHARD
Kein EU-Land ist so skeptisch gegenüber einem Beitritt der Türkei wie Österreich. 75 Prozent halten nach einer Umfrage die Türkei für nicht EU-kompatibel. Nur 28 Prozent befürworten die Aufnahme neuer Mitglieder. Das gilt auch für Bulgarien, Rumänien und Kroatien, die bereits vor der Tür stehen.
Welcher Politiker will sich angesichts dieser Stimmungslage mit einer klaren Pro-Türkei-Haltung exponieren? Die letzte Belagerung Wiens durch die Türken 1683 wird von Meinungsmachern gezielt in Erinnerung gerufen. Vor allem in der FPÖ wird vor der Aufnahme einer islamischen Gesellschaft in den christlichen Klub gewarnt. Einzig Jörg Haider hält gegen den Parteibeschluss. Für ihn ist gerade die Hereinnahme der Muslime der beste Schutz vor islamistischen Gefahren. In den anderen Parteien wird das religiöse Argument nicht offen bemüht, doch entdeckt auch die ÖVP plötzlich ihr Herz für die Frauenrechte jenseits des Bosporus. Und in der SPÖ werden Bedenken hinsichtlich des Arbeitsmarkts geäußert.
Da es keinen Weg zurück gibt, sucht man nach einer Zauberformel, die wie ein Ja klingt, aber ein Nein bedeutet. „Verhandlungen mit offenem Ausgang“ wünschen sich ÖVP und SPÖ. Als Alternative zum Vollbeitritt könne ein engeres Assoziationsabkommen herauskommen.
Einzig die Grünen sprechen sich für echte Beitrittsverhandlungen aus. Aus der Reihe tanzt – nicht untypisch – der EU-Abgeordnete Johannes Voggenhuber. Es will sich nur dann umstimmen lassen, wenn sich auch die Türken klar für einen Beitritt aussprechen und die EU dem Unternehmen gewachsen ist.
Doch Österreich ist noch aus einem anderen Grund mitentscheidend für den EU-Gipfel. Kanzler Schüssel ist der Koordinator der Europäischen Volkspartei, und die trifft sich heute zu einer mehrstündigen Abstimmung ihrer Position. Bereits davor forderte Schüssel eine Serie neuer Auflagen für die Türkei. So lässt zum Beispiel die Klausel, ein neuer Beitritt müsse „im allgemeinen Interesse der Union und der Kandidatenländer“ sein, jederzeit die gewünschte Interpretation zu.