: Muss die Türkei in die EU?
1. Die europäischen Staaten haben der Türkei 41 Jahre lang den Beitritt versprochen, sie können jetzt keinen Rückzieher machen.
ja
So ist es. Es wäre verheerend, just zu dem Zeitpunkt, zu dem die Türkei die Kriterien für den Beginn von Beitrittsgesprächen erfüllt, plötzlich zu entdecken, dass das Land zu groß, zu arm und kulturell doch völlig inkompatibel ist. Vor allem, nachdem man der Türkei erst im Jahr 1999 den Kandidatenstatus zuerkannte und vor zwei Jahren feierlich zusicherte, Beitrittsgespräche zu beginnen, falls die EU-Kommission die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien attestiert. Eine so genannte privilegierte Partnerschaft wäre vielleicht Anfang der 90er-Jahre noch ein ernsthaftes Angebot gewesen, heute ist es nicht mehr als eine verklausulierte Absage.
nein
Tatsächlich liegt das Wirtschaftswachstum der Türkei mit rund 6 Prozent deutlich über dem der EU, und die Prognosen sind auch für die Zukunft optimistisch. Andererseits sind die Türkei und die EU über die Zollunion schon heute eng verflochten. Seit 1995 hat sich die Zahl der deutschen Unternehmen in der Türkei von 500 auf 1.000 verdoppelt. Deutschland ist schon heute der wichtigste Handelspartner des Landes. Durch den Beitritt zur Freihandelszone CFTA, wie ihn die privilegierte Partnerschaft vorsieht, könnte diese Zusammenarbeit noch verbessert werden.
2. Die Türkei erfüllt die Kopenhagener Kriterien, die notwendig sind für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU, nur in Ansätzen.
ja
Die EU-Kommission kommt in ihrem letzten Fortschrittsbericht zu dem Ergebnis, dass die Türkei die Kopenhagener Kriterien erfüllt. Liest man jedoch die Kapitel über Menschenrechte und Minderheitenschutz, kommen Zweifel auf. Natürlich ist es ein „Fortschritt“, dass Gefangene kaum noch mit Elektroschocks gefoltert werden. 88,9 Prozent der Häftlinge, die sich bei Menschenrechtsorganisationen meldeten, geben jedoch an, von Aufsehern geschlagen worden zu sein. Außerdem wird der Türkei in dem Bericht lediglich die „Ausweitung der Pressefreiheit“ bescheinigt. Und das Strafmaß für den Aufruf zur Wehrdienstverweigerung wurde sogar erhöht.
nein
Die Frage, ob die Kriterien erfüllt sind, ist nur bis zu einem gewissen Grad objektivierbar. Wenn die Grundlagen in der Gesetzgebung gelegt sind, ist es letztlich eine politische Entscheidung zu sagen, bei der Implementierung sei das Glas halb voll oder halb leer. Es ist unbestritten, dass bei der Abschaffung der Folter und den Rechten der Kurden die Realität anders aussieht, als es auf dem Papier steht. Die Implementierung wird aber umso schneller vorangehen, je schneller die Annäherung an die EU fortgesetzt wird. Experten sind sich zudem einig, dass an die Türkei strengere Maßstäbe angelegt werden als bei allen anderen Beitrittskandidaten zuvor.
3. Die Aufnahme der Türkei gefährdet die weitere politische Integration der EU.
ja
Die Kopenhagener Beitrittskriterien gelten auch für die EU: Sie muss reif für weitere Mitglieder sein. Nun hat die Union gerade zehn neue Staaten aufgenommen und langsam wird klar, wie schwierig es ist, mit 25 Staaten Entscheidungen zu fällen. Das Problem bei der Türkei ist nicht allein, dass hier Muslime leben. Hinzu kommt, dass es zugleich das größte und das ärmste Land der EU sein wird. Wenn es schwerer wird, sich auf Werte und Ziele zu verständigen, wenn der Streit um die knappen Gelder zunimmt, droht der Stillstand oder gar der Rückschritt zur Freihandelszone.
nein
Das ist eine Behauptung, die letztlich durch nichts anderes gedeckt ist, als die eigentlich selbstverständliche Tatsache, dass immer mehr Länder eine immer tiefer gehende Vernetzung zunächst schwieriger machen. Die Europäische Union ist ein sich fortlaufend veränderndes Gebilde, für das es bislang noch keine finale Vorstellung gibt. Hätte man von vornherein einen neuen Bundesstaat nach US-Vorbild im Sinn gehabt, hätte man schon Großbritannien nicht aufnehmen dürfen, wie Frankreichs Präsident Charles de Gaulle ganz richtig befürchtet hatte.
4. Der türkische EU-Beitritt wird vor allem das größte EU-Mitgliedsland Deutschland Milliarden Euro kosten.
ja
Durch den Beitritt der zehn Neuen wächst der EU-Haushalt um 40 Milliarden Euro. Den größten Teil zahlt Deutschland. Berechnungen zufolge könnte ein Türkei-Beitritt 28 Milliarden Euro kosten. Natürlich weiß man nicht, wie die EU in zehn Jahren aussehen wird. Ziemlich sicher aber ist, dass sie ihre Agrarpolitik nicht drastisch reformiert. Oder sollte Paris bereit sein, auf Geld für seine Bauern zu verzichten, um die Türkei auszunehmen? Inkonsequent ist der Kanzler: Er klagt, dass Berlin zu viel Geld nach Brüssel schickt, und ist zugleich eine Hauptbefürworter des Türkeibeitritts.
nein
Das ist eine billige Populismusmasche, zu der Günter Verheugen bereits alles gesagt hat: Die EU wird an die Türkei genauso viel oder wenig zahlen, wie sie zu zahlen bereit ist. Das gilt besonders für den Agrarsektor, der mit oder ohne Türkei gründlich umstrukturiert werden muss. Da niemand weiß, wie die Türkei und wie die EU in 15 Jahren aussehen werden, ist es schlechterdings unmöglich, seriöse Zahlen vorzulegen. Hochrechnungen, die die jetzige Ausgabenstruktur der EU und die heutigen ökonomischen Daten der Türkei zugrunde legen, sind Milchmädchenrechnungen.
5. Mit der Aufnahme der prosperierenden Türkei wird die EU wirtschaftlich gestärkt.
ja
Die Türkei ist ein interessanter Markt für die übrigen EU-Länder, der immer wichtiger wird, je besser die Kaufkraft der türkischen Konsumenten sich entwickelt. Viele Ökonomen vergleichen die Türkei heute mit Spanien beim Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen und prophezeien für die Türkei eine ähnlich günstige Entwicklung. Schon jetzt hat die Türkei mit 5 bis 7 Prozent die höchsten jährlichen Wachstumsraten in Europa, und bei guten Rahmenbedingungen, die durch eine Annäherung an die EU gegeben wären, das Potenzial, dieses Wachstum auch beizubehalten.
nein
Tatsächlich liegt das Wirtschaftswachstum der Türkei mit rund 6 Prozent deutlich über dem der EU, und die Prognosen sind auch für die Zukunft optimistisch. Andererseits sind die Türkei und die EU über die Zollunion schon heute eng verflochten. Seit 1995 hat sich die Zahl der deutschen Unternehmen in der Türkei von 500 auf 1.000 verdoppelt. Deutschland ist schon heute der wichtigste Handelspartner des Landes. Durch den Beitritt zur Freihandelszone CFTA, wie ihn die privilegierte Partnerschaft vorsieht, könnte diese Zusammenarbeit noch verbessert werden.
6. Wenn die EU keine Verhandlungen mit der Türkei aufnimmt, wird der Demokratisierungsprozess des Landes gestoppt.
ja
Auch wenn Ankara versichert, die Reformen würden mit oder ohne EU fortgesetzt werden, so ist es doch klar, dass die reformfeindlichen Kräfte enormen Auftrieb erhalten werden. Es ist ja kein Zufall, dass die demokratischen Kräfte mit besonders großen Hoffnungen nach Brüssel schauen. NGOs wären entsetzt, wenn die EU sie im Regen stehen lassen würde. Die Türkische Republik hat sich immer als eine Gesellschaft auf dem Weg nach Westen definiert. Wird diese Grundkonstante erschüttert, wird das zu einer Identitätskrise mit völlig ungewissem Ausgang führen.
nein
Natürlich war die Aussicht, Beitrittsverhandlungen mit der EU aufzunehmen, ein wichtiger Hebel für die Durchsetzung der Reformen. Aber die EU kann nicht allen Staaten eine Mitgliedschaft in Aussicht stellen, nur damit diese einen Demokratisierungsprozess einleiten. Dieser Logik zufolge müsste die EU sofort Weißrussland den Beitritt anbieten. Die EU ist nicht die Nanny der Welt. Die Staaten müssen ihre Reformen aus eigener Kraft schaffen. Wenn die Türkei beim Scheitern der Verhandlungen Reformen zurücknimmt, zeigt das, wie ernst es ihr tatsächlich damit war.
7. Wenn die EU die Türkei aufnimmt, kann sie auch zu Marokko oder Israel nicht nein sagen.
ja
Gegnern des EU-Beitritts der Türkei wird vorgeworfen, dass sie keine Muslime in ihren „Christen-Club“ aufnehmen möchten. Doch schon heute ist klar, dass auch das muslimische Land Bosnien Verhandlungen mit Brüssel führen wird. Hier geht es nicht um Glauben, sondern um die Zukunft Europas, und der größte Teil der Türkei liegt eben nun mal in Asien. Wenn es der EU nur um geopolitische Größe geht, dann kann sie sich in PG, Politische Gemeinschaft, umbenennen und auch Marokko aufnehmen. Ansonsten muss sie endlich sagen, wo ihre Grenzen liegen.
nein
Formal gibt es natürlich keinen Automatismus, nach der Türkei auch anderen Ländern, mit denen bislang keinerlei Assoziierungsverhandlungen geführt werden, einen Beitritt anzubieten. In der Tat wäre ein Beitritt der Türkei aber ein Grund, dass sich auch andere Länder Hoffnung machen würden. Doch sowenig die EU mit der Türkei aus altruistischen Gründen über einen Beitritt verhandelt, würde sie dies auch mit anderen Ländern nicht tun. Verhandlungen wurden und werden nur dann geführt, wenn sich beide Seiten davon einen Vorteil versprechen.