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Archiv-Artikel

Mann vieler Eigenschaften

BIOGRAFIE Lothar Gall zeigt Walther Rathenau als Repräsentanten eines bildungshungrigen Bürgertums. Dabei verliert er einiges aus dem Blick

„Die Alten sehen in mir die Revolution, die Jungen in mir die Reaktion“

Walther Rathenau

VON MATTHIAS LOHRE

Walther Rathenau war ein Hüne. Wenn er mit Menschen redete, legte er den Kürzergeratenen gern die Hand auf die Schulter. Dass sie das womöglich unpassend fanden, störte ihn nicht.

Rathenau hielt seinem Gegenüber auch gern Vorträge, deren tiefe Weisheit er nie bezweifelte. Seinen Vater Emil, einen der erfolgreichsten Industriellen des Kaiserreichs, hat er für dessen Technikversessenheit verachtet. Hingegen vergötterte der stets kühl wirkende Rathenau seine Mutter Mathilde. Auch daraus speiste sich sein lebenslanges Schwanken zwischen nüchterner Wirtschafts- und musischer Künstlerwelt.

Dies und vieles mehr gehört zu einer Biografie Walther Rathenaus, einer der schillerndsten Persönlichkeiten im Deutschland nach 1900. Und all das und weit mehr fehlt im neuen Buch des Historikers Lothar Gall.

Bereits der Untertitel des knapp 300-seitigen Werks „Walther Rathenau. Porträt einer Epoche“ deutet an, dass der emeritierte Geschichtsprofessor der Universität Frankfurt sich nicht sonderlich für seinen Gegenstand interessiert: für das erstaunliche Leben des Industriellen, Schriftstellers, Künstlerfreunds und Reichsministers Walther Rathenau. Stattdessen geht es Gall vordringlich um die gesellschaftlichen Umwälzungen im Deutschland um 1900. Das klingt sogar vielversprechend, gilt Gall doch als immens belesener Sozialhistoriker, der sich vor allem dem deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert verschrieben hat. Und wessen Vita könnte die zum Zerreißen gespannte Atmosphäre im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik anschaulicher machen als die von Walther Rathenau?

Der Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau war ein widersprüchlicher Mensch. Er war einer der einflussreichsten Großindustriellen – und forderte bereits 1917 Sozialisierungen und eine hohe Erbschaftsteuer. Er stieg kurz nach Beginn des Ersten Weltkriegs auf zu einer Art „wirtschaftlichem Generalstabschef hinter der Front“ – und war überzeugt von der Sinnlosigkeit des Völkerschlachtens. Trotzdem forderte Rathenau noch im Oktober 1918, als selbst die Militärs die bevorstehende Niederlage eingestanden, öffentlich „Festigkeit“ und Durchhaltewillen. Der gebürtige Jude propagierte früh das völlige Aufgehen der deutschen Juden in der Bevölkerung und galt den aufkommenden Nazis als Inkarnation des vaterlandslosen „Börsen- und Sowjetjuden“.

Zeitlebens empfand sich der Mann mit dem Spitzbart als Grenzgänger. Skeptisch beobachtet wurde er von seinen nüchternen Kollegen aus der boomenden Elektrizitätswirtschaft, weil er philosophische Bücher schrieb und einen vage definierten „Volksstaat“ forderte. Ähnlich verständnislos zeigten sich die Maler, Journalisten und Schriftsteller, deren Nähe er zeitlebens suchte. Ihnen galt er als ein Mann der Wirtschaft, der auf ihrem Feld nur dilettierte. Auch als nach dem Ersten Weltkrieg die Zeit für Rathenaus Ideen gekommen zu sein schien, blieb er außen vor. „Die Alten sehen in mir die Revolution“, schrieb er, „die Jungen in mir die Reaktion.“ Was für eine Fundgrube für eine Biografie.

Wer steckte also hinter der Fassade des 1867 in Berlin Geborenen, der 1922 dort von rechtsextremen Attentätern erschossen wurde? Für diese wichtige Frage interessiert sich der Autor nicht. Wer Galls Buch liest, muss mehr als 150 Seiten voller Wiederholungen und holpriger Schachtelsätze überstehen, um zu den ersten kargen Worten über Rathenaus Charakter zu gelangen. „Wenig einnehmend, kühl und arrogant“ habe er auf seine Umgebung gewirkt. Das muss genügen.

Zugegeben: Gall versucht sich in seinem Buch an einem sozialhistorischen Ansatz. Er will die Person Rathenaus anhand seiner Herkunft und seiner Zeit verstehen. Deshalb ermüdet er Leser mit endlosen Ausführungen über die Unterschiede zwischen dem „alten“ Bürgertum, das sich zu sehr der Krone und dem Besitz verschrieben habe, und dem „neuen“ Bürgertum. Letzteres entstand Ende des 19. Jahrhunderts und rekrutierte sich vor allem aus Angestellten und Beamten, aber auch aus dem später sogenannten Bildungsbürgertum – Anwälte, Ärzte, Journalisten, Verleger oder Lehrer. Das neue Bürgertum grenzte sich bewusst von der „Bourgeoisie“ ab und definierte sich über seinen Leistungs- und Bildungswillen.

Der Autor zieht das Fazit, Rathenau sei ein „außenstehender Repräsentant“ dieser Zeit und Bevölkerungsgruppe gewesen, „jemand, der von dieser Position aus die inneren Widersprüche seiner Epoche widerspiegelte und zugleich formulierte“. Das ist ein kluger Ansatz. Nur steht darüber so gut wie nichts im Buch. Beide Teile des Werks stehen unverbunden nebeneinander. Als seien sie zwei spröde wissenschaftliche Aufsätze, die zufällig zwischen denselben Buchdeckeln gelandet sind.

Rathenau, der die Einzigartigkeit der „Seele“ hymnisch feierte, auf seine Umgebung aber merkwürdig blass wirkte, wurde zum Vorbild des Doktor Paul Arnheim. Der Protagonist in Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ ist ein „Mann vieler Eigenschaften“, hinter denen sich abseits des blanken Ehrgeizes das Nichts auftut. Eine echte Biografie müsste sich an eine Erklärung für diese vermeintliche Charakterleere machen. Autoren wie Wolfgang Brenner („Walther Rathenau. Deutscher und Jude“) haben das in jüngster Zeit erfolgreich getan. Gall hingegen betrachtet sein Forschungsobjekt wie von weiter Ferne. Nicht einmal, dass Rathenau aller Wahrscheinlichkeit nach homosexuell war, ist dem Historiker auch nur eine Erwähnung wert. So macht Lothar Gall aus Rathenaus Lebensgeschichte eine Biografie ohne Eigenschaften.

■ Lothar Gall: „Walther Rathenau. Porträt einer Epoche“. C. H. Beck, München 2009, 298 Seiten, 22,90 Euro